Im Bann seiner Küsse
Fremde in anderen Familien hatte Tess gelernt, was Kinder brauchten, und wusste, was man fühlte, wenn man weniger oder gar nichts bekam. Kinder brauchten Liebe und Lachen und einen Ort, an dem sie sich geborgen fühlten. Die Rafferty-Mädchen hatten nichts von alldem.
Bis jetzt, gelobte Tess sich. Irgendwie würde sie das ändern. Irgendwie würde sie Lachen und Liebe in dieses Haus bringen.
Lachen. Das war der Schlüssel. Sie musste Jack das Lachen lehren. Das schien einfach, zu einfach, aber Tess war sicher, dass alles andere davon abhing. Wenn er seinen Zorn so lange vergessen konnte, dass er lachte oder gar nur lächelte, würde vielleicht der wahre Jack zum Vorschein kommen.
Aber wie sollte man ihm ein Lächeln entlocken? Das war die Frage, die sie die halbe Nacht wach gehalten hatte. Doch vor zehn Sekunden, als sie ein Einmachglas abgestaubt hatte, war es ihr eingefallen.
Tu das Unerwartete. Überrumple ihn und sorge dafür, dass er in diesem Zustand bleibt. Einmal hatte sie es bereits getan, als er sie im Bad ertappte. Sie nackt zu sehen, hatte ihn so aus dem Konzept gebracht, dass er eine Weile seine Wut vergaß.
Und jetzt musste sie ihn angekleidet aus der Fassung bringen.
Es konnte klappen. Sie war ihrer Sache sicher.
Sie brauchte sich nur vorzustellen, was er von ihr erwartete. Und das Gegenteil tun.
Tess erwartete Savannah und Katie auf der Veranda, als die Mädchen aus der Schule kamen.
»Hi, Kinder!«, rief sie munter und winkte ihnen zu.
Savannah lächelte schüchtern und winkte zurück. »Hi, Mama.«
Tess raffte ihren hinderlichen Rock hoch und lief die Stufen hinunter und über den Hof, um sie zu empfangen. »Ich erwarte euch schon dringend. Ich habe nämlich eine großartige Idee.«
Katie horchte auf. »Wirklich? Was denn?«
Tess hängte sich bei den Mädchen ein. Gemeinsam schlenderten sie zum Haus. »Ihr werdet schon sehen, aber zuerst möchte ich euch ein paar Fragen stellen.«
Sofort war die Lockerheit der beiden dahin, ihr beschwingter Gang verlangsamte sich, wurde zögernd und schleppend, bis sie ganz stehen blieben.
Tess ging in die Knie und drückte sie an sich. »Keine Angst.
Es ist ja nichts Großartiges. Ich frage mich nur, welche Dinge hier gewöhnlich sind.«
Verständnislose Blicke aus zwei Augenpaaren.
Tess versuchte es mit einer gezielteren Frage. »Ich meine, was erwartet euer Daddy im Haushalt?«
Savannah überlegte. »Du meinst, pünktliches Essen oder so?«
Tess lächelte. »Genau! Euer Daddy erwartet also pünktlich seine Mahlzeiten. Was sonst?«
»Na ja, er hat gern, wenn es ruhig ist.«
»Hmmm ... was sonst?«
Savannah zog die Schultern hoch. »Weiß nicht. Er mag keine Unordnung.«
Tess' Lächeln wurde nachdenklich. »Da hast du Recht.« Sie wandte sich an Katie. »Fällt dir etwas ein, das er erwartet?«
Katies Augen wurden rund vor Staunen, als könnte sie nicht fassen, dass ihre Mutter sie um Rat fragte. Dann verzog sie ihr Gesicht in tiefer Konzentration. »Keiner darf seine Geräte in der Scheune anfassen.«
»Perfekt, Katie. Einfach perfekt.«
Die Augen der Kleinen wurden noch größer. »Ja?«
Tess nickte. »Und wie. Und jetzt kommt der schwierige Teil: Was erwartet er von mir?«
Beide gaben einstimmig zur Antwort: »Geschrei.«
Tess lachte beglückt. »Kein Problem. Ich schreie ja nur selten. So, was haltet ihr von folgendem Spiel?«
»Bist du sicher?«, fragte Savannah mit wachsamem Blick. »Daddy mag solche Spiele gar nicht.«
Tess sah sie unschuldig an. »Aber Versteck spielen liebt jeder.«
»Ich spiele gern Verstecken«, sagte Katie, die rosigen Finger fest um die Löffel gelegt, die Tess ihr gegeben hatte.
»Siehst du«, sagte Tess zu Savannah. »Alle mögen Versteckspiele. So, Katie, du versteckst jetzt das übrige Besteck, während Savannah mir noch einmal zeigt, wie man diesen verdammten Vogel begießt, ohne sich zu verbrennen. Dann wascht ihr euch die Hände und holt euren Daddy«
Jack streifte den sandigen Schmutz von den Zinken und hängte die Mistgabel sorgfältig an die Scheunenwand. Die exakt angeordneten Gabeln, Harken, Rechen und anderen ländlichen Arbeitsgeräte glänzten matt im schwindenden Licht des Spätnachmittags. Er drehte sich um, nahm den Hammer aus dem Gürtel und hängte ihn an seinen Haken über der Werkbank. Er hing genau ausgerichtet an seinem Platz neben dem Handtuch.
»Daddy, das Essen ist fertig.«
»Abendessen?« Jack drehte sich von der Werkbank um und sah Savannah vor der Tür stehen.
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