Im Bann seiner Küsse
verlieren.
»Mist«, fluchte er leise und umfasste die schmalen Metallgriffe unwillkürlich fester.
Den ganzen Morgen über hatte er sich immer wieder in Erinnerung gerufen, wer sie war und was sie tat. Immer wieder hatte er sich gesagt, dass es abermals nur ein Spiel war, eine List, um ihn und die Kinder vernichtend zu treffen.
Aber, Gott stehe ihm bei, diesmal erschien ihm dieses Verdammungsurteil unglaubwürdig. Immer wenn er daran dachte, wie grausam sie in der Vergangenheit hatte sein können, sah er sie auch so vor sich, wie sie jetzt war - lachend, lächelnd. Er sah, wie sie dem alten Drachen in der Schule die Stirn geboten hatte, wie sie mit verbranntem Backwerk um die Wette geworfen und wie sie Calebs Bäuchlein liebkost hatte.
Vielleicht. Dieses Wort und alles, was es bedeutete, ließ ihm keine Ruhe. Vielleicht hatte sie den alten Hass, die alten Wunden wirklich vergessen. Vielleicht war es diesmal echt. Vielleicht ...
»Lieber Gott, lass es mich nicht glauben, wenn es nicht wahr ist«, sagte er leise.
Tess hörte das unverkennbare Geräusch von eiligen Schritten und hielt in ihrer Arbeit inne. Sie wischte die feuchten Hände an der Schürze ab und ging ans Küchenfenster, um hinauszusehen.
Jack kam zum Haus gelaufen. Sie ließ den Vorhang fallen und wischte sich wieder nervös die Hände ab.
Seit dem Tag zuvor hatte sie mit Jack nicht mehr gesprochen. Beim Abendessen hatten sie einander gegenüber gesessen, schweigend und nachdenklich, dann war Jack aus dem Haus gerannt und in der Scheune verschwunden. Kein Wunder, dass er dort blieb, bis Tess längst im Bett war, und am Morgen das Haus verlassen hatte, lang ehe sie erwachte.
Sie hatte mit ihm sprechen wollen. Sie hatte sogar erwogen, einfach bei ihm in der Scheune hereinzuplatzen und eine Aussprache zu fordern. Aber worüber? Das war die Frage, die sie davon abgehalten hatte.
Gab es über diesen Kuss etwas zu sagen, das für einen von ihnen Sinn ergab? Dass sie ihn nicht hätte küssen sollen? Oder dass sie froh war, es getan zu haben?
Sie fröstelte, obwohl es im Raum stickig heiß war, und verschränkte die Arme. Der würzige Zimtgeruch des Kuchens im Backrohr umgab sie. Wenn sie die Augen schloss, glaubte sie das weiche, tastende Gefühl von Jacks Kuss zu spüren. Die Berührung seiner Zunge, die elektrische Spannung, die sie bei der feuchten, heißen Berührung gefühlt hatte. Er war anders als jeder Kuss, den sie jemals bekommen hatte, erfüllt von leidenschaftlicher Glut und warmer, tröstlicher Zuneigung. Sie hatte das Gefühl, ihn schon zuvor geküsst zu haben - in einer nun vergessenen, längst vergangenen Zeit.
Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und Jack polterte herein. Schwer atmend blieb er stehen und starrte sie an. »Lissa? Die Hannahs ...« Er hielt mitten im Satz inne, als er bemerkte, wie es in der Küche aussah.
Sein Blick wanderte von einem Punkt zum anderen, verharrte bei jedem sorgsam platzierten Gegenstand, ehe er weiterglitt. Er registrierte jede Veränderung. »Was machst du da?«
Sein Ton, mild wie Brandy, glitt über Tess' Rücken und erinnerte sie an den Kuss.
Nervös fuhr sie mit der Zunge über die Unterlippe. Plötzlich war es ihr wichtig, dass er zu würdigen wusste, was sie hier getan hatte. Was sie tun konnte. »Ich mache dein Haus zu einem Heim.«
Er zuckte zurück, seine Augen wurden schmal. »Mein Haus?«
Tess trat so nahe vor ihn, dass er sie in die Arme nehmen konnte. Sie spürte seine Körperwärme, seine Atemzüge strichen über ihre Stirn. Er rührte sich nicht. Steif und wachsam stand er da, die Hände wie an den Seiten festgenagelt.
»Sieh mich an, Jack.«
Widerstrebend schaute er auf sie hinunter.
Sie hob ihr Gesicht und begegnete seinem wachsamen Blick. Das ist es, wurde ihr klar. Nach einem tiefen Atemzug wagte sie sich hinaus auf den schwankenden Ast und bot ihm ihr Herz an. »Du hast Recht. Es ist unser Heim.«
Er erbleichte, wich aber ihrem Blick nicht aus. Sie standen da, so nahe, dass sie sich berühren konnten, was sie peinlich vermieden, und doch ließen ihre Blicke nicht voneinander ab.
Tess hätte gern noch etwas gesagt, um das Schweigen zu brechen, in dem sie offenbar seit Jahren lebten, doch wusste sie nicht, wie. Sie hatte das Gefühl, es wäre plötzlich in Reichweite, jenes nicht greifbare Etwas, das sie ihr Leben lang verzweifelt gesucht hatte. Sie brauchte sich nur vorzuneigen und sich küssen zu lassen.
Das Geräusch von Wagenrädern, die knirschend über Steine
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