Im Bannkreis Des Mondes
Schon wieder.
Sie hatte es nicht geschafft, Talorc das Versprechen abzuringen, dass er seinem Clan Zeit gewährte, sich an die neue Lady zu gewöhnen, die nun mal in England geboren und aufgewachsen war. Ein Land, dessen Bewohnern gegenüber er selbst nie etwas anderes als Misstrauen und Schlimmeres entgegengebracht hatte. Sie fürchtete auch jetzt noch, er könne Una einfach fortschicken. Abigail würde sich schrecklich fühlen, wenn das geschah.
Sie wusste nur zu gut, was es bedeutete, wenn es keinen Ort gab, den man sein Zuhause nennen konnte. Keinen Ort, an den man gehörte, ohne dass jemand Fragen stellte …
Auch wenn diese Möglichkeit ihr große Sorgen bereitete, musste Abigail sich noch einem weiteren Problem stellen, das sie besonders fürchtete: das Risiko, verrückt zu werden. Vielleicht war es richtig, wenn die Kirche lehrte, ihre Taubheit sei der Ausdruck einer Geisteskrankheit. Man glaubte, das Fieber habe ihr nicht nur das Gehör geraubt, sondern auch den Verstand.
Die Frage allerdings, warum ein Gebrechen so viele Jahre brauchte, ehe es sich zeigte, konnte sie nicht beantworten.
Abigail weigerte sich zu glauben, sie sei von einem Dämon besessen. Der Priester daheim hatte diese Ansicht vertreten und gesagt, das behindere sie. Aber auch wenn sie nicht daran glaubte, konnte sie nicht leugnen, dass ihr irgendetwas fehlte.
In der vergangenen Nacht war Abigail einmal absolut sicher gewesen, Talorcs Stimme zu hören. Seine Stimme war herrlich und männlich rau. Ihr war ganz warm und schwindelig davon geworden, und eine unbändige Freude hatte sie erfüllt. Sogar die Erinnerung daran ließ sie die ewige Stille, zu der sie verdammt war, heftiger verfluchen, als sie es in den letzten Jahren getan hatte. Aber die Stimme konnte nicht real gewesen sein, denn wie schon in der Höhle mit den heißen Quellen hörte sie außer dieser Stimme nichts .
Die Stimme war also ganz allein ihrer Vorstellungskraft entsprungen, und allein der Gedanke war schon äußerst beunruhigend. Sie weigerte sich, die andere Möglichkeit in Betracht zu ziehen: dass die Stimme von jenem Dämon stammte, der angeblich der Grund für ihre Taubheit war. Das Fieber hatte ihr Hörvermögen zerstört. Punkt – aus – Ende.
Wenn es stimmte, was die Äbtissin – Emilys Freundin – sagte, waren Priester zu schnell mit einer Erklärung zur Stelle, die einem Dämon die Schuld zuwies, wenn sie einem unerklärlichen Phänomen begegneten. Die gelehrte Frau hatte in einem ihrer ersten Briefe an Abigail darüber geschrieben. Sie hatten jene Korrespondenz fortgesetzt, die Emily hatte ruhen lassen müssen, nachdem sie in den Norden gegangen war.
Abigail hatte keine Ahnung, wie sie die Freundschaft zu der Äbtissin aufrecht erhalten sollte. Es war die einzige Beziehung, die sie mit Trauer im Herzen hinter sich ließ. Die Äbtissin hatte von Abigails Taubheit gewusst und sie deshalb nie geringer geachtet. Abgesehen von Emily war die Äbtissin sogar die einzige Person, die ihr Gebrechen einfach als solches hingenommen hatte.
Zum ersten Mal, seit sie ihr Gehör verloren hatte, verspürte Abigail jetzt die quälende Sorge, der Priester könne doch recht haben. Denn sie hatte nicht nur geglaubt, Talorcs Stimme zu hören, als er ihren Namen rief. Nein, da war auch das Heulen eines Wolfs gewesen.
Ihr Magen krampfte sich zusammen. Wie schrecklich, wenn ihr Verstand ihr so einen Streich spielte!
Sie bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen und wünschte, sie könne sich einfach so vor dem verstecken, was sie plagte. Sie konnte es nicht, und selbst wenn sie sich der Täuschung hingab, es doch zu können, wäre die Wirklichkeit auf Dauer kaum leichter zu ertragen. Mühsam rang sie die Tränen nieder, die in ihren Augen brannten. Sie musste sich ihren Ängsten stellen. Sie wäre nicht so weit gekommen, hätte sie beim ersten Anzeichen von Widerstand immer gleich aufgegeben.
Die Stimmen in ihrem Kopf waren einfach nur etwas, das sie ebenfalls vor den Menschen um sie verbergen musste. Es schadete ja niemanden im Clan der Sinclairs, wenn sie glaubte, die Stimme ihres Mannes oder das Heulen eines Wolfs zu hören. In gewisser Weise war es gar nicht so anders als ihre Taubheit.
Die Stimmen machten sie nicht zu einem Dämon. Sie war noch immer der Engel, den Talorc in ihr sah. Sie war nicht besessen! Aber sie wünschte sich so sehr, ihre Schwester wäre hier, um mit ihr darüber zu reden. Oder dass sie irgendwie ihre Korrespondenz mit der Äbtissin
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