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Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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»Ich habe dich gewählt«, sagte er. Die ganze Hitze der sterbenden Stadt hatte sich in diesem Raum auf dich herabgesenkt. Eine feuchte Hitze, die das Atmen erschwerte, die Schimmel an den Rändern des Teppichs und im Riss des Mauerwerks hinter der Lampe erzeugte. »Ich kann den Gedanken an einen langsamen Tod nicht ertragen.« Eine Schiffssirene heulte in der Ferne, eine Rikscha ratterte vorüber. »Ich liebe dich.« Türknäufe wurden im Gang gerüttelt, als das Zimmermädchen seine nutzlosen Runden machte. Seine Hand, die selbst in diesem Moment deinen Körper liebkoste. Seine Lippen in der Mulde deiner Kehle, sein Mund auf deinem Mund, der leicht bittere Geschmack des Schmerzmittels auf seiner Zunge. Der Druck gegen deinen Schenkel, die wundervolle Wärme, das langsame Erwachen des Begehrens und der Kontrapunkt. Dann das ganze Spektrum des Lebens im Körper eines Mannes, der den Tod gewählt hat, der dich als Erfüllungsgehilfen gewählt hat.
    Was kann man an einem Sonntag in Fengdu tun?
    Man kann die Begleitumstände, die feinen Unterschiede zwischen vorsätzlicher Tötung und Tötung auf Verlangen überdenken.
    Die Kälte hat begonnen, alles zu durchdringen. Irgendwann überlagerte sie die Hitze, obwohl du nicht weißt, wann diese Umkehr stattfand, in welcher Minute und Stunde du erkanntest, dass deine Haut kalt geworden war, dass du keine Strickjacke, keine Decke, keine andere Möglichkeit hattest, dich zu wärmen, als ein heißes Bad zu nehmen. Du kannst nicht sagen, wie lange es her ist, seit du die Wanne mit Wasser fülltest, darauf wartend, dass die dunkelbraune Brühe heller wurde, bernsteinfarben, bevor du den rostigen Ausguss mit dem Gummistöpsel verschließen konntest. Es regnet unaufhörlich. Du lauscht, vielleicht fährt der Rikschaboy unten auf der Straße vorüber, doch er ist fort. Die Schiffe sind fort. Das Zimmermädchen im Gang ist fort. Das Badewasser, in dem du liegst, ist kühl geworden. Die Seife verliert ihre Worte im Wasser, lässt eine weiße Spur zurück. Du hast nichts vergessen. Du hast genau das getan, was dir aufgetragen wurde.
    Es gibt Dinge, die man an einem Sonntag in Fengdu unterlassen sollte, an diesem Sonntag und jedem anderen.
    Du solltest nicht an unseren blauen Raum denken und wie du, aus deinem Traum von ihr erwachend, zum Boot hinuntergingst, wie du zuerst über die Angelruten stiegst, deren Leinen durch mangelnden Gebrauch erschlafft waren, und dann über die niedrige Türschwelle in die Kabine. Du solltest nicht daran denken, wie du nach ihr suchtest, sie jedoch nirgends finden konntest – nicht in der schmalen Koje, wo ihr sonst oft lagt, noch in dem Hohlraum unter den Polstern, wo sie sich bisweilen versteckte. Du solltest nicht darüber nachsinnen, dass sie nicht da war, dass der Fluss nicht gegen das Bootshaus schwappte, dass sich das Bootshaus überhaupt nicht bewegte, denn der Fluss lag reglos da, es war Nacht und der Fluss war dunkel. Der Mond schien nicht auf ihn herab und sie lag nicht rücklings auf den verzogenen Planken des Steges oder auf der alten, vertrauten Matratze und eure Finger verschränkten sich nicht im glitschigen warmen Wasser des Flusses.
    Du solltest nicht durch den Türspalt spähen, auf die dünnen langen Beine, die auf dem Bett ausgestreckt liegen und erstaunlich weiß und nahezu unbehaart sind. Du solltest keine Schuldgefühle aufkommen lassen.
    Wenn du aus der Badewanne steigst, das weiße Handtuch um die Schultern geschlungen, und den Raum betrittst, als wäre es jeder x-beliebige Raum in der Stadt, darfst du nicht in das Gesicht des Mannes blicken, den du gerade getötet hast, obwohl er noch nicht tot aussieht. Läge er nicht so still und reglos da, könnte man meinen, er schläft.

28
    Am Morgen liegt dichter Nebel über der Stadt. Die Türen stehen offen, doch die Händler und Handwerker sind fort. In den Wohnungen über den Läden flattern bunte Vorhänge durch die geöffneten Fenster. Ein Plastik becher schliddert auf mich zu, angetrieben von einer Brise. Am Fuß einer Platane liegt das verrostete Rad eines Fahrrads auf einer Lattenkiste mit verschiedenen Küchenuten silien. Man hört nirgendwo Stimmen, nirgendwo Fahrrad klingeln. Hier und da sieht man Relikte des alten Lebens, die zurückgelassen wurden: ein schwarz verkohlter Topf auf einem Herd, drei halb geleerte Schüsseln Reis auf einem draußen stehenden Tisch, aus einem Fenster hängende, steif gewordene Wäsche, Mahjongg-Steine auf einem Papp karton. Aus der Anordnung

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