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Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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gegessen haben. Das Horn eines Bootes auf dem Fluss. Draußen im Gang ist die Putzfrau zugange, obwohl es nichts zu putzen gibt.
    Wenn ich mich in der Wanne zurücklehne und den Kopf nach links neige, kann ich seine ausgestreckten Beine auf dem Bett sehen, erstaunlich weiß und beinahe unbehaart. Das vergilbte Laken bedeckt seinen Kopf, fällt über seinen breiten Brustkorb, seinen Bauch, sein Becken. Die ausgefranste Kante endet unmittelbar über seinen Knien.

27
    In Greenbrook standen Amanda Ruth und ich am Sonntag immer früh auf und gingen auf Zehenspitzen in die Küche, um eine Schüssel mit Blaubeeren und Erdbeeren, in Scheiben geschnittenen Bananen und Melonen zu füllen. In T-Shirt und Slip schlichen wir zum Steg hinunter, setzten uns ans Ende auf die Kante und ließen unsere Zehen ins Wasser baumeln. Wir blieben nur, bis die Sonne über der dichten Baumreihe auftauchte, solange nur ein schwacher Lichtschimmer herrschte und ein vages Wissen um den entstehenden Tag bestand. Wir aßen die Früchte mit den Händen, unsere Finger waren klebrig und süß und wenn wir fertig waren, zogen wir unsere T-Shirts aus und glitten lautlos in den Fluss. Wir schwammen bis zur Mitte, unter dem noch immer sichtbaren Mond, während überall am Flussufer die Vögel zu zwitschern begannen.
    Am Strand unweit des Stegs war das Wasser flach und warm, doch je weiter wir hinausschwammen, desto kälter wurde es. Wir vertrieben uns die Zeit mit schwimmen auf dem Rücken und im Schmetterlingstil; wir paddelten wie die Hunde und ließen uns auf dem Rücken treiben, schwerelos. Ich versteifte meinen Körper und bewegte mich mit den Hüften und Schenkeln vorwärts, das Gesicht nach unten, die Arme gerade an den Seiten, den Kopf ins Wasser eingetaucht, wie Der Mann aus dem Meer . Wir sprachen nicht, sondern lauschten den anheimelnden Geräuschen unseres Flusses – dem Rauschen und Plätschern des Wassers, das auf die Bewegungen unserer Körper reagierte, dem leisen Ruf eines Ochsenfrosches, dem hohen Sirren eines Fischerbootes in der Ferne. Wenn wir müde waren, schwammen wir zum Landungssteg zurück, kletterten die knarzende Holzleiter hinauf und dann lagen wir mit bloßem Gesäß in der Sonne, bis uns Amanda Ruths Mutter hereinrief.
    Im Haus duschten wir und kleideten uns für den Kirchgang an. Ihre Eltern nahmen vermutlich an, dass wir ab einem bestimmten Alter von alleine aufhören würden, miteinander zu duschen, doch mit elf, zwölf und dreizehn schlossen wir immer noch die Badezimmertür hinter uns, warfen unsere nassen Badesachen auf den Fußboden und stiegen Seite an Seite in die schmale Wanne. Sie stand meistens unter dem Strahl, den Rücken mir zugewandt, und ich seifte meine Hände ein, ließ sie über ihre Schultern bis zur Gesäßfalte gleiten. Danach drehte sie sich zu mir um und ich seifte kreisend ihren flachen Bauch ein. Wenn ich fertig war, machte sie das Gleiche bei mir und dann stiegen wir aus der Wanne, wickelten uns in dicke Frotteelaken und öffneten die Schranktür im Schlafzimmer, um die Kleidung für die Kirche herauszusuchen.
    Ich besaß keine Kleider für die Kirche und so musste ich mir von ihr etwas ausleihen, was normalerweise um die Brust zu weit und um die Hüften zu eng war. Wenn unsere Haare geföhnt und wir in Halbröcke, Kleider und Sandalen geschlüpft waren, warteten Amanda Ruths Eltern bereits im Wagen auf uns. Der blaue Impala roch nach einem blumigen Parfum, das ihre Mutter benutzte, eine Duftnote, die bei Amanda Ruth ein Niesen auslöste. Ich erinnere mich, dass ihr Vater an diesen Sonntagmorgen gewöhnlich ernst und in sich gekehrt war. Während ihre Mutter am Radioknopf herumspielte und nach der Stimme von Elvis oder Buddy Holly suchte, saß Mr. Lee mit beiden Händen am Steuer da und fuhr. Gelegentlich warf er einen flüchtigen Blick in den Rückspiegel oder nahm die Hand vom Lenkrad, um seine Krawatte zurechtzurücken. Wenn er den Mund aufmachte, dann nur, um uns zu ermahnen, die Fensterscheiben hochzukurbeln oder während des Gottesdienstes still zu sein.
    In Mr. Lees Stimme war nichts, was auf China hingedeutet hätte. Doch an den Sonntagen in Greenbrook war er Chinese und sonst gar nichts. Man konnte es an den Gesichtern der Kirchgänger ablesen, die sich umdrehten und ihn anstarrten, wenn er mit seiner üppigen blonden Frau und der amerikanischen Tochter auf die zweite Bank reihe im Mittelschiff zusteuerte. An jenen Sonntagen aßen wir nach der Kirche im Red Lobster zu Mittag. Amanda Ruth

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