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Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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aufsteigenden Hitze, der Erfüllung, der Vollendung. Wir nehmen uns Zeit, lassen es währen, solange es geht. Eine Stunde vergeht, mehr, dieses Pulsieren, dieses Gefühl, als tue sich die Erde auf. »Komm näher«, sagt er und obwohl dieses Ansinnen unmöglich erscheint, weil wir uns nicht näher kommen können, als wir bereits sind, gelingt es irgendwie: alles ist im Fluss, geschmolzene Materie, jedwede Trennung aufgehoben. Danach liegen wir da, miteinander vereint, schwitzend, erschöpft, wir atmen gemeinsam, einen Atemzug lang, zwei Atemzüge, drei, ein aufeinander abgestimmter Rhythmus, der langsamer und langsamer wird. Ich liege auf ihm, bis er erschlafft, kleiner wird, aus mir herausgleitet.
    Wir stehen auf und heben unsere Kleider vom Boden auf. Ich knöpfe ihm das Hemd zu, er schließt den Reißverschluss meines Kleides. Das kühle Metall kriecht wie eine Schlange an meiner Wirbelsäule hinauf und ich denke an die Mädchen in den roten Gewändern bei dem inszenierten Trauerzug in Yueyang, wie sie in ihren schmut zigen Schuhen die staubige Straße entlangtrotteten. Wir stehen lange Zeit am Fenster. Unten auf dem Fluss fahren Schiffe vorüber. Auf den Straßen ist niemand zu sehen, nichts, nur gespenstische geometrische Schatten, die die untergehende Sonne wirft. »Es ist Zeit«, sagt er. Er geht zum Tisch, nimmt die Spritze und drückt sie mir in die Hand. Er legt sich auf das Bett. Sein Körper erscheint mir unglaublich lang. Seine Waden und Füße hängen über der Kante der Matratze. Er trägt Khakishorts und ein weißes Leinenhemd, das frisch und kühl wirkt, sogar bei dieser erstickenden Hitze. Ich setze mich auf die Bettkante. Ich blicke in sein Gesicht, flehe ihn ein letztes Mal an. »Ich kehre mit dir nach Australien zurück. Ich pflege dich. Alles, was du willst.«
    »Bitte, Jenny. Wenn du möchtest, dass ich bettle, tue ich auch das.«
    Seine Lippen sind voll und blass. Ich beuge mich hinab, um sie zu küssen. Seine zitternden Hände berühren meine Schultern, meinen Hals, meine Brüste, meine Schenkel. Er legt seinen Arm auf das Laken.
    Meine Sicht verschwimmt. Ich wische mir über die Augen, konzentriere mich, richte meine ganze Aufmerksamkeit auf den schwarzen Punkt. Die Spritze in meinen Händen fühlt sich kalt an und unglaublich leicht. Ich setze die glänzende Spitze der Nadel auf seine Haut und drücke. Seine Haut ist erstaunlich widerstandsfähig. Ich drücke kräftiger. Mir stockt der Atem, als die Haut nachgibt. Die Vene pulsiert leicht, als ich in sie eindringe. Die lange dünne Nadel beginnt zu gleiten, ich sehe, wie sich ihre Silhouette unter der Haut bewegt. Ich zögere.
    »Gut«, sagt er. »Das machst du gut.«
    Ich drücke den Kolben herunter. Er bewegt sich so langsam, als würde sich das Blut mir widersetzen. Ich drücke, bis mein Daumen gegen den Boden der Spritze stößt.
    »Ja«, sagt er. »Und jetzt leg dich zu mir.«
    Ich ziehe die Nadel heraus, presse instinktiv den Finger auf seinen Arm, wo ein roter Blutstropfen schimmert. Ich lege mich hin und er nimmt mich in seine Arme. Lange, lange versuche ich, meine Atemzüge den seinen anzupassen. Zuerst ist es leicht, doch dann werden seine Atemzüge länger und ich halte den Atem an, um mit ihm Schritt zu halten. Er beginnt am ganzen Körper zu zittern, dann hustet er und spuckt Blut. Ich laufe ins Badezimmer und hole Handtücher. Es ist furchtbarer, als ich mir vorgestellt hatte. Es gibt keinen sauberen, leichten Tod. »Ich hole Hilfe«, sage ich weinend.
    »Nein.« Er nimmt meine Hand, sein Griff ist über raschend stark, seine Stimme indes so schwach, dass ich sie kaum zu hören vermag.
    Die Zeit bleibt stehen. Die Welt hört auf sich zu drehen. Mein Körper fühlt sich leicht und hohl an. Ich liege neben ihm, halte ihn. »Ich liebe dich.« Als mir diese Wort endlich einfallen, ist er schon weit über den Punkt hinaus, an dem er mich hören könnte.
    Nun ist das Badewasser, in dem ich liege, kühl geworden. Ein kleines Stück Seife schwimmt an der Oberfläche und hinterlässt eine weiße Spur, verliert seine Worte im Wasser. Als ich das kleine Viereck aus dem Papier wickelte, konnte ich nicht umhin, mich über die Inschrift im Fleisch des Seifenstücks zu amüsieren: Glückliche Waschung. Im Raum bewegt sich nichts. Auf dem Teppich liegt ein winziger Glassplitter. Auf dem Tisch neben dem Bett eine Tasse Wasser und das tiefdunkle Grün eines getrockneten Bananenblatts, von dem wir ein Festmahl aus kaltem Reis und Schweinefleisch

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