Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)
und ich bestellten immer Garnelen mit Puffmais. Die langjährigen Bedienungen kannten die Lees beim Na men, doch die neuen redeten oft über Mr. Lee hinweg statt mit ihm. »Was möchte er?«, fragten sie Amanda Ruths Mutter und machten ein überraschtes Gesicht, wenn er antwortete: »Ich nehme die gebackenen Austern und Eistee.« Einmal hatte eine zaundürre Bedienung mit braunen Haaren, die ihr bis zur Taille reichten, gesagt: »Oh! Sie sprechen ja perfekt Englisch.«
Ich konnte mir nie einen Reim darauf machen, warum sich Mr. Lee darauf eingelassen hatte, dort zu bleiben. Ich verstand nicht, wie jemand freiwillig einen weiteren Sonntag in Greenbrook verbringen konnte oder warum er es auch nur versuchen wollte.
* * *
Und in Fengdu? Was macht man an einem Sonntag in dieser Geisterstadt, diesem Ort, der bald in den Fluten untergehen wird, in einer Stadt, in der es noch Häuser, jedoch keine Menschen mehr gibt, Straßen, jedoch keine Fahrräder, geschnitzte Götzenbilder, doch niemanden, der sie anbetet?
Du kannst deine Kleider aus der Kommode räumen, den Pass nehmen, die leere Blechdose, die Flasche mit der Körperlotion, die Polaroid-Fotos, die er von dir gemacht hat, und all diese Dinge im Rucksack verstauen, den du mitgebracht hast, bevor dir klar war, wie du diesen Ort verlassen würdest. Du kannst aus dem Fenster des Hotelzimmers blicken, auf die Schiffe, die im Hafen einlaufen, um mit einer Fracht beladen zu werden, die vor dem Untergang gerettet werden soll. Es ist ein zeitaufwändiges Unterfangen, eine ganze Stadt in ihre Elemente zu zerlegen.
Du kannst an deinen Ehemann denken, der sich an Bord eines anderen Schiffes befindet, das westwärts fährt, fort von dir. Du kannst das Zimmer verlassen, die Tür hinter dir zusperren und für jeden ersichtlich das Schild mit der Mitteilung daran hängen, die Graham in chinesischen Schriftzeichen hinterlassen hat. »Darauf steht, dass wir noch zwei Tage bleiben, im Voraus bezahlt haben und darauf verzichten, dass unser Zimmer gemacht wird«, erklärte er mir. »Im Klartext: Bitte nicht stören . Das gibt dir Zeit, von hier wegzukommen. Bitte denk daran, die Mitteilung an die Tür zu hängen, wenn du gehst.«
Während du die abbröckelnde Außentreppe hinuntergehst, hältst du den Umschlag in der Hand. Er enthält Anweisungen, die Graham für dich aufgeschrieben hat: Geh um Punkt 16 Uhr zum Kai hinunter. Ein Sampan wird auf dich warten, um dich nach Chongqing zu bringen. Der Umschlag enthält außerdem Geld in chinesischer Währung, einen Schlüssel und eine Adresse. Der Schlüssel gehört zu einem Haus in Sydney. »Es ist von jetzt an dein Haus, wenn du es haben möchtest«, hat er dir gesagt. »Mit allem Inventar.«
An einem Sonntag in Fengdu kannst du die tausend Stufen zum Gipfel des Minshan Berges erklimmen, von dem man einen ungehinderten Blick auf die verlassene Stadt hat. Bei dem einzigen Straßenhändler, der hier verblieben ist – mit offizieller Genehmigung, für den Fall, dass der eine oder andere Regierungsvertreter noch einmal den Minshan Berg besteigen möchte, bevor dieser in den Fluten versinkt –, kannst du so genannte Höllen banknoten kaufen, eine Währung, die auf den Grabstätten der Ahnen verbrannt wird, als Bestechungsgeld für die himmlischen Richter. Das Wasser steigt, die Menschen verlassen die Stadt, die Bildnisse der Götter und Dämonen verbringen ihre letzten Tage im Licht. Dennoch kannst du so tun, als würdest du hier Urlaub machen, in der Stadt der Geister.
Es gibt indes Dinge, die man an einem Sonntag in Fengdu vermeiden sollte, Dinge, die man besser unterlässt.
Du darfst dich nicht weigern, an die irdischen Richter zu denken, die einen Unterschied im Hinblick auf die Be gleitumstände der Tat und die Schwere der Schuld machen, denn dieser Unterschied ist deine einzige Rettung. Ohne diesen Unterschied könnte man von der vorsätzlichen Vernichtung eines Menschenlebens sprechen – ungeachtet dessen, dass es sich um Tötung auf Verlangen handelt, weil er dich angefleht hat, es zu tun, weil er viele einleuchtende Worte benutzte, um dich zu überzeugen.
»Ich möchte nicht elend dahinsiechen«, sagte er. Du lagst nackt neben ihm, als er die Worte aussprach. Seine Hand ruhte auf deiner Brust. Du lagst auf den Laken, nicht darunter, weil die Hitze unerträglich war, trotz des Regens. Du konntest den Regen gegen die Fensterscheibe trommeln hören und das schmutzige Rinnsal sehen, das sich auf der zerborstenen Scheibe bildete.
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