Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)
Tote«, stand ich mit den anderen jungen Ehefrauen Schlange, um die Namen zu erfahren. Doch mein Mann starb erst letztes Jahr, nach dem Umzug unserer Kinder und Enkel in die neue Siedlung.
Die alte Frau redet und redet. Ich wüsste gerne, in welchem Ausmaß sich die Geschichten, die ich mir für sie ausdenke, von denen unterscheiden, die sie wirklich erzählt. Während ich zuhöre, spinnen die Geschichten in meinem Kopf ihre eigenen Fäden, alte Geschichten, die zurückgespult werden, während sie neue Gestalt annehmen.
Die alte Frau hält einen Augenblick inne, als warte sie darauf, dass ich das Wort ergreife. Dann fährt sie fort und ihrem Tonfall entnehme ich, dass sie mir eine Frage stellt.
» Wo bu shui shuo zhongwen«, sage ich. Ich spreche nicht Chinesisch.
Sie verstummt. Sie leert ihre Teetasse, dann rappelt sie sich mühevoll hoch und kommt zu mir herüber. Sie legt eine Hand auf meine Schulter, befühlt mein Gesicht, meine Haare. Obwohl ihre Augen auf mich gerichtet sind, scheint sie mich nicht anzusehen, sondern vielmehr durch mich hindurchzusehen. Ein Ausdruck des Wiedererkennens huscht über ihr Gesicht.
»Aaah, gweilo« , sagt sie langsam. Und dann noch einmal, als müsse sie sich selbst von der Richtigkeit ihrer Wahrnehmung überzeugen: » Gweilo .« Weißer Geist.
In dem Moment geht mir ein Licht auf: Die alte Frau ist fast blind. Erst jetzt entdeckt sie, dass ich keine Chinesin bin. Seit Wochen ist sie alleine in ihrer verlassenen Stadt, öffnet ihren Teestand und wartet darauf, dass ein anderes menschliches Wesen erscheint. Frühmorgens wacht sie auf und erhitzt Wasser, um in dem kleinen Waschzuber im Garten zu baden. Sie zieht die Markise über ihrem Teestand aus, setzt den Kessel aufs Feuer, löffelt lose Teeblätter in einen Becher und wartet, wie seit Jahren, auf ihren ersten Kunden. Doch es kommt kein Kunde. Alle sind fort, in die neue Siedlung hoch droben auf den Hügeln am anderen Flussufer gezogen.
Früher hatte sie vermutlich zahlreiche Kunden. Die Männer kamen jeden Morgen. Sie lasen Zeitung und erzählten sich unflätige Witze, bevor sie zur Arbeit aufbrachen. Danach kamen die jungen Frauen auf einen Sprung vorbei, um ihren Füßen auf dem Weg zum Metzger eine kurze Ruhepause zu gönnen, oder bevor sie zum Fluss hinuntergingen, um Reis und Feigen an die vorbeifahrenden Dschunken zu verkaufen. Manchmal fanden sich die Kinder nach der Schule an ihrem Teestand ein und bettelten um Erdnusskaramellen und Sesamhäppchen. Die Schulkinder waren ordentlich frisiert und trugen ihre Bücher in bunten Ranzen.
Vor einigen Jahren kamen Regierungsvertreter, die von Ort zu Ort reisten und Versammlungen abhielten, an denen alle Dorfbewohner teilnehmen mussten. Sie erzählten von dem neuen Damm. Sie sprachen davon, dass der Damm Elektrizität und Wohlstand bringen und dass er viele Menschenleben retten werde. Sie versprachen den Dorfbewohnern schöne neue Wohnungen in Plattenbauweise mit glänzenden weißen Fassaden, in einer neuen Stadt, die viel höher als die alte errichtet werde. »Wozu brauchen wir neue Wohnungen?«, erinnert sich die alte Frau geantwortet zu haben. »Ich wurde hier geboren. Meine Familie lebt seit vielen Generationen in diesem Haus.« Sie konnte sich ein Leben ohne ihren Innenhof, ohne die vertrauten Stimmen der Kinder und Enkel und Nichten und Neffen nicht vorstellen.
»Dein Haus ist zu alt«, sagte einer der jungen Männer sanft. »Du musst bis zum anderen Ende der Straße gehen, um deine Notdurft zu verrichten. Du musst dein Badewasser auf dem Herd erhitzen. Deine neue Wohnung bietet dir die Möglichkeit, dein Alter zu genießen.«
»Mein Haus ist alt, aber robust«, sagte sie. »Ich werde bleiben.«
Der Regierungsmann lachte sie aus. »Das Dorf wird in den Fluten untergehen! Bist du vielleicht ein Fisch? Willst du auf dem Grund des Flusses leben?« Darüber musste sogar sie lachen. Sie stellte sich vor, wie sie unter Wasser an ihrem Teestand saß, während Fische und andere kleine, im Wasser lebende Kreaturen an ihr vorüberhuschten und an den Teeblättern knabberten. Sie stellte sich vor, wie sie Seite an Seite mit dem baiji schwamm. Als die Versammlung zu Ende war, kehrte sie zu ihrem Teestand zurück. Sie hatte länger geöffnet als sonst, weil das Dorf an jenem Abend nicht zur Ruhe kam. Die Leute saßen an den Tischen vor ihrem Stand und redeten bis spät in die Nacht. Doch die alte Frau machte sich keine Sorgen. »Unsinn«, versicherte ihr eine Freundin. »Eine
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