Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)
Haar. Vielleicht hat sie keine Ahnung, was sie mit diesem sonderbaren Wesen an ihrem Teestand anfangen soll. Vielleicht mag sie mich. Vielleicht weiß sie einfach nicht, was sie jetzt tun soll. Sie geht zu ihrem Stuhl zurück und nimmt wortlos Platz, abwartend, und da sie so viel von sich preisgegeben hat, beginne ich zu erzählen.
Ich erzähle ihr vom Demopolis River, der warm und klar an heißen Sommertagen war und kühl und braun nach einem Regenfall. Ich erzähle ihr von den Eichen, die seine Ufer säumten, von den Pekannüssen, die wir in das gemächlich fließende Wasser tauchten, von den Kindern, die mit ihren Schlauchbooten unterwegs waren, und wie Amanda Ruth und ich uns an einem Samstag spätnachmittags auf Autoreifen den Fluss hinuntertreiben ließen, vorbei an Familien, die am Ufer ein Picknick veranstalteten mit gekochte Hummer, gebratene Wels und Garnelen- Kebab. Die Picknicktische bogen sich unter der Fülle der Speisen: Maiskolben, Kartoffelsalat, Gurken, Melonen und hohe Glaskrüge mit gesüßtem Eistee, der sich in der Sommerhitze erwärmte. Manchmal kamen wir gerade in dem Augenblick des Weges, wenn Mr. Seymour eine Wassermelone über dem Knie zerteilte und die schwarzen Kerne durch die Luft flogen, und dann warf er uns Melonen schnitze zu. Manchmal paddelten wir zu dem kleinen Strand hinter dem Stonehouse, einem verwaisten Herrenhaus, das nach Mr. und Mrs. Stone benannt war, die seit Ewigkeiten tot waren. Wir gingen die wackeligen Stufen zur Veranda hinauf, setzten uns auf die hölzerne Schaukel und schaukelten stundenlang hin und her, redeten, hielten uns an den Händen, lauschten dem Fluss und wenn es spät wurde, holten wir die Autoreifen und rollten sie auf der Straße zurück, den ganzen Weg bis zu Amanda Ruths Elternhaus, wo ihre Mutter mit dem Abendessen wartete.
Ich erzähle der alten Frau von Amanda Ruths Sehnsucht nach China, dass sie chinesische Sprachkassetten aus der Bücherei auslieh und die Wände ihres Kleiderschranks mit Landkarten beklebte, die sie aus dem Atlas abgepaust hatte, und dass sie das gesamte Geld, das sie zum Geburtstag geschenkt bekam, und ihren Lohn als Babysitter für die Reise sparte, die sie plante. Ich erzähle ihr, wie ich Amanda Ruths Asche auf dem Fluss verstreute.
»Sie ist jetzt zu Hause«, sage ich. »Amanda Ruth hat endlich heimgefunden.« Die alte Frau nickt und lächelt, als würde sie verstehen.
Einige Zeit später blicke ich auf meine Uhr und stelle fest, dass ich hier seit annähernd einer Stunde sitze. Ein ungewohnter Friede hat sich auf mich herabgesenkt. Ich habe hunderte von Meilen auf dem vielleicht wichtigsten Fluss der Welt zurückgelegt. Ich habe Tempel und Pagoden, Fabriken und Antiquitätenläden besucht. Ich habe Berge von unvorstellbarer Höhe gesehen, deren Fuß von einem Dunstschleier verhangen war, so dass sie im Himmel statt in der Erde verwurzelt schienen. Ich habe den Staudamm durchquert, das größte Bauprojekt der Welt. Doch das verborgene Herz Chinas habe ich erst hier entdeckt, an diesem kleinen Teestand in einer ausgestorbenen Stadt. Diese Frau hat Staatsoberhäupter kommen und gehen gesehen. Wahrscheinlich hat sie Kinder geboren, die ihr Enkel und Großenkel geschenkt haben. Sie ist langmütig, wie der Fluss. Der Jangtse mag zeitweilig den Anschein erwecken, als sei er gezähmt, doch er ist nach wie vor mächtig, er ist Der Fluss. Er ist langmütig, wie diese Frau. Doch am Ende wird der Fluss in diesem Kräftemessen den Sieg davontragen, so viel ist gewiss.
* * *
Ich gehe durch die menschenleeren Straßen, meine Schuhe schlappen über den Asphalt. Unten am Kai dümpeln ein paar vereinzelte Sampans vor sich hin. Ein Mann mittleren Alters winkt mich herbei und ruft mich, oder vielmehr eine erheiternde, verfälschte Abwandlung meines Namens. Auf dem Zettel mit Grahams Anweisungen stand, dass ich nach einem Mann Ausschau halten soll, der meinen Namen kennt. Ich solle mit ihm gehen. Als ich nun den Bootsmann mit seinem morschen Sampan sehe, die Hemds ärmel über den muskulösen gebräunten Armen hochgekrempelt, bin ich zutiefst gerührt über Grahams Großmut und Umsichtigkeit. Er hat an alles gedacht, hat bis zuletzt an mich gedacht.
Ich erinnere mich, wie er im Pavillon unweit des Poyang Sees stand, den Arm um meine Taille geschlungen, und über das Reisen sprach. »Ich möchte so weit weg von zu Hause sein, dass keine Möglichkeit besteht, an einem Tag oder binnen zwei Tagen zurückzukehren«, hatte er gesagt. Als ich
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