Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)
an«, sagt er. »Ein Erdbeben in Japan. Ein schlimmes. Immenser Schaden. Was gäbe ich darum …«
Er beendet den Satz nicht, doch ich weiß, was er sagen will: Was gäbe ich darum, dort zu sein, den Bergungsmannschaften bei der Rettung von Menschenleben zu helfen. Und nicht hier, bei mir. »Es heißt, dass der Jangtse häufig über die Ufer tritt und es flussaufwärts Über schwemmungen gibt«, biete ich an. »Möglicherweise von katastrophalen Ausmaßen.«
»Ja?« Seine Miene hellt sich auf, allerdings nur für einen Moment. »Das glaube ich erst, wenn ich es mit eigenen Augen sehe.«
* * *
Um viertel vor sieben gehen wir frühstücken. Die Tische sind mit weißem Porzellan, auf Hochglanz poliertem Silber und Leinenservietten in kräftigen Blau- und Grüntönen gedeckt. »Tisch sieben«, sagt die Empfangsdame, als Dave ihr unseren Kabinenschlüssel zeigt. Sie bringt uns an unseren Tisch, an dem ein dürres junges Mädchen mit rot geränderter Brille Diät-Cola aus der Dose trinkt. »Sehr nette Gesellschaft«, erklärt die Empfangsdame. »Ich sicher, alle haben glücklich zusammen.«
Unsere nette Gesellschaft trägt eine weiße Bluse, die schlaff von ihren knochigen Schultern hängt. Sie ist jung, kreidebleich und sieht ungesund aus, mit dunklen Ringen unter den Augen und gefärbten blonden Strähnen im Haar. »Morgen«, begrüßt sie uns grinsend. Bevor wir uns vorstellen können, erscheint ein Steward mit Speisekarten und zwei großen Tassen mit heißem Kaffee. Nirgendwo im Restaurant gibt es etwas Chinesisches: keine Stäbchen oder dampfenden Nudeln, keine Tassen mit grünem Tee. Alle Mitglieder der Mannschaft haben sich westliche Namen zugelegt. Auf dem Namensschild unseres Stewards steht in knalligen gelben Druckbuchstaben »Matt Dillon«.
Nette Gesellschaft deutet auf das Namensschild. »Wie der Schauspieler?«
Matt Dillon strahlt. »Ja. Ich mag sehr den Film Flamingo Kid . Und Rumblefish.« Er nimmt unsere Bestellungen auf, verspricht, bald wiederzukommen. Das junge Mädchen wendet sich uns zu. »Ich heiße Stacy. Ich habe an der Michigan State Kunst studiert und gerade mein Examen gemacht. Meine Eltern haben mich hergeschickt, um Landschaften zu malen. Und wer sind Sie?«
Dave reicht ihr die Hand zur Begrüßung. »Ich bin Dave. Und das ist Jenny. Wir sind auf Urlaub hier, von New York.«
»Und was machen Sie beide beruflich?«
»Ich bin derzeit Geschäftsführerin einer Kleiderbou tique in Manhattan.« Ich falte meine Serviette auseinander und lege sie auf meinen Schoß, bemüht, jede weitere Unterhaltung über dieses Thema zu vermeiden.
»Wie schön. Da lernen Sie bestimmt viele interessante Leute kennen.«
Ich würde ihr gerne erzählen, dass ich früher andere, ehrgeizigere Ziele hatte. Dass ich ebenfalls Künstlerin bin, in meinem Herzen, obwohl ich nicht weiß, welcher Art. Es versetzt mich immer wieder in Erstaunen, dass ich im Einzelhandel gelandet bin, zumal ich einkaufen hasse. »Das ist nur vorübergehend«, sage ich und füge lachend hinzu: »Wenn man acht Jahre vorübergehend nennen kann.«
Stacy wendet sich an Dave. »Und Sie?«
»Ich bin Rettungssanitäter.«
»Rettungssanitäter?« Stacy rückt ihre Brille zurecht. Die Brille sieht aus, als wäre sie im Grunde überflüssig, eher ein modisches Bekenntnis als eine Notwendigkeit.
»Ja, Rettungssanitäter.«
»Faszinierend. Muss spannend sein, wenn man sieht, was man mit seiner Arbeit bewirken kann.«
Kurz nach unserer Heirat hängte Dave seine lukrative Stellung als Wertpapierhändler an den Nagel, um seinen Traumjob zu ergreifen, den er heute, nach elf Jahren, immer noch liebt – die Gefahr und den Adrenalinschub, die Möglichkeit, bei jedem Einsatz Menschenleben zu retten. Meine eigene Tätigkeit bietet keinerlei Nervenkitzel dieser Art. Die Frauen, die in der Boutique an der 74. Straße Ecke Columbus Avenue einkaufen, warten selten mit Überraschungen auf. Sie gehören zu der Sorte, die es irgendwie schafft, in ihren Seidenkostümchen kühl auszusehen und erlesen zu duften, während die restliche Bevölkerung New Yorks schwitzt. Sie behandeln mich höflich, jedoch von oben herab, lassen mich spüren, dass sie meinen Geschmack in puncto Kleidung bewundern, mich allerdings nie zu ihren Dinnerpartys einladen würden. Daves Klientel ist eine völlig andere: Er spielt den Helden bei Drogensüchtigen und den Opfern von Herzanfällen. Seine Hand ist die letzte, an die sich einige Menschen vor dem Tod klammern, und sein Gesicht
Weitere Kostenlose Bücher