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Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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gepresst, gleichen wir einer hirnlosen, unförmigen Hammelherde. Die Einheimischen starren uns an, zeigen mit den Fingern auf uns. Aus allen Richtungen ruft man uns ein lautstarkes »Hal-lo« zu. Eine Frau im altmodischen Mao-Anzug zupft an meinem Ärmel und versucht, mir einen Stapel Postkarten aufzuschwatzen. »Zwanzig Yuan«, sagt sie. »Zwanzig Yuan.« Als ich den Kopf schüttele, geht sie auf fünfzehn runter und als ich abermals ablehne, wendet sie sich an Dave; danach versucht sie ihr Glück bei allen anderen Mitgliedern unserer Reisegruppe.
    Die offenen Garküchen am Straßenrand und die Restau rants erfüllen die Luft mit einem exotischen Duftgemisch: in Dampf gegarte Hefeklöße, Schüsseln mit Reis und Rindfleisch, würzige Suppen, grüne Gemüse, Schweinefleisch, in glänzende Bananenblätter gehüllt. Wir zahlen zwei Yuan pro Person Eintritt für einen Park, in dem sich ältere Leute in Reih und Glied aufgestellt haben, um ihre Tai-Chi-Übungen zu machen. Es ist heiß trotz des Regens, die Luft vibriert vom Klang der Musik, die aus den tragbaren Kassettenrekordern ertönt – chinesische Opern und einige patriotische Lieder als Muntermacher. Es sind auch andere, natürliche Töne zu hören: Vogelgezwitscher. Ein Mann geht mit einem kleinen Bambuskäfig an uns vorüber; in diesem hockt eine winzige Nachtigall, die mit dem Schnabel die Gitterstäbe bearbeitet. An den Ästen der Bäume hängen hunderte ähnlicher Käfige. In jedem Käfig befinden sich zwei winzige Porzellanschälchen, kunstvoll bemalt, und ein einziger gefangener Vogel, der für seinen Herrn singt.
    Draußen vor dem Park führt uns Elvis Paris zu einer Reihe bunt geschmückter Marktstände und drängt uns zum Kauf. Dave ersteht eine Leinentischdecke für seine Mutter. Ich wähle eine handbemalte Haarspange für meine Nichte. »Darf ich Ihnen Dave kurz entführen?«, fragt Stacy. »Er hat die gleiche Statur wie mein Bruder.« Dave spielt Kleiderpuppe für sie, die Arme zu beiden Seiten ausgestreckt, während sie ihm ein Hemd nach dem anderen anhält. Sie sieht mich an. »Was meinen Sie?«
    »Mir gefällt das gelbe.«
    »Mir auch.« Sie bezahlt das Hemd, es ist aus Baumwolle, mit winzigen Delphinen bedruckt.
    Eine halbe Stunde später schwenkt Elvis Paris den grünen Wimpel über dem Kopf und führt seine Herde zum Schiff zurück, wo das Mittagessen auf uns wartet. Mir läuft immer noch das Wasser im Mund zusammen von den köst lich duftenden Gerichten in der Stadt, doch an Bord setzt man uns eine entschieden unchinesische Mahlzeit vor: Salat mit einem schweren Dressing, Mais in Sahnesoße und ein Huhn, zäh wie Gummi, offenbar in Salzlauge getränkt.
    Stacy stochert mit ihrer Gabel im Mais herum. »Wie in Luby’s Cafeteria«, sagt sie.
    Dave lacht. »Das Zeug könnte man mit einem Strohhalm trinken.«
    »Wie sind Sie auf die Idee gekommen, Rettungssanitäter zu werden?«, fragt sie.
    »Rein zufällig. Ich war Wertpapierhändler – und Amateurfotograf. An einem Wochenende begleitete ich eine Ambulanz beim Einsatz, um Aufnahmen für eine Reportage unter dem Motto ›Ein Tag im Leben von …‹ zu machen, die in einer unabhängigen Wochenzeitschrift erscheinen sollte. Der erste Notruf kam von einem Verkehrsunfall auf dem West Side Highway. Überall Blut, Qualm, Menschen, die um Hilfe schrien. Da war ein Junge, nicht älter als sechs oder sieben, dessen Beine unterhalb der Knie völlig zerschmettert waren. Ich beugte mich hinunter, um ein Foto zu machen, und sah durch das Objektiv, dass sein Gesicht völlig ausdruckslos war. Nicht verängstigt oder schmerzverzerrt, sondern völlig ausdruckslos. Ich schoss ein paar Bilder und dann hörte ich den Jungen sagen: ›Hey, Mister.‹ Ich war so verdattert, dass mir die Kamera beinahe aus der Hand gefallen wäre. ›Hey‹, sagte er abermals. ›Kann ich einen Schluck Wasser haben?‹ Ich gab ihm zu trinken. Von dem Augenblick an war es um mich geschehen. Plötzlich kam mir der ganze Wertpapierhandel wie ein fauler Zauber vor.«
    Dave kam an jenem Nachmittag mit Blutflecken an Hemd und Hose nach Hause. Er konnte nicht aufhören, über den Unfall zu reden und über den Selbstmordversuch an der Amsterdam Avenue, zu dem die Ambulanz anschließend gerufen wurde, und über das Opfer eines Herzanfalls im Lincoln Plaza. »Ich sattle um«, sagte er beiläufig beim Abendessen. Ich gratulierte ihm. Ich dachte, er würde seinen lang gehegten Traum verwirklichen und sein Geld als Fotograf verdienen. Als er mir

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