Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)
erzählte, dass er Rettungssanitäter werden wolle, lachte ich. Ich dachte, das sei ein Scherz. Man hat bestimmte Erwartungen, bestimmte Überzeugungen in Bezug auf das Persönlichkeitspotenzial des Menschen, den man heiratet. Natürlich kann man sich nie ganz sicher sein; ein Restrisiko bleibt immer. Obwohl man in der Regel ein gutes Gespür für die Palette der Möglichkeiten hat. Bei Dave hätte ich Haus und Hof verwettet: Er war vernarrt in die Fotografie, schleppte ständig die Kamera mit sich herum und die Wände seiner Wohnung waren mit meisterhaften Schwarz- Weiß-Fotos tapeziert, von denen jedes seine eigene Geschichte erzählte.
Über unserem Bett hängt noch ein Foto, das er an einem Sommertag in der Bronx aufgenommen hat. Es zeigt drei Kinder auf einem Klettergerüst. Zwei hängen kopfunter an den Stangen, mit baumelnden Armen. Das dritte, ein Mädchen, posiert im Vordergrund, eine Hand auf der Hüfte; es blickt in die Kamera, lächelt. Nach Daves Auszug betrachtete ich stundenlang das Foto, versuchte mir vorzustellen, wie das Mädchen den Fremden hinter der Kamera wahrgenommen hatte, was für ein Mensch mein Mann in ihren Augen war. Als ich nun Stacy anschaue, geht mir die gleiche Frage durch den Kopf: Was sieht sie in ihm? Einen Mann, der ein paar Jahre älter ist als sie, Erfahrung hat? Spürt sie beim Anblick seines Ringfingers, der schmucklos ist, dass er den Glauben an seine Ehe verloren hat? Irgendwann verweilen ihre Augen ein wenig länger auf der blassen Narbe über seinem Nasenbein und ich frage mich, ob sie diese Unvollkommenheit genau wie ich attraktiv findet, beunruhigend sexy.
Dave und Stacy sind während der Mahlzeit in eine Un terhaltung unter vier Augen vertieft. Sie lachen hin und wieder über einen Scherz, während mich unsere Tischgenossen, ein Paar mittleren Alters aus London namens Winifred und Mack, mit langatmigen Geschichten über ihre alljährlichen Reisen nach Alaska und Hawaii ergötzen. »Wir haben Fische durch ein Loch in der Eisscholle gefangen«, sagt Winifred. »Wie richtige Eskimos!« Mack nickt und fügt enthusiastisch hinzu: »Und auf Molokai sind wir einem echten Leprakranken begegnet.«
Nach dem Dessert reckt sich Dave und gähnt. »Ich habe die Zeitverschiebung immer noch nicht richtig überwunden. Ich denke, ich werde ein Nickerchen machen.«
»Ich komme mit«, sage ich und stelle mir eine Verführungsszene am Nachmittag vor – zerknüllte Laken, verschwitzte Gliedmaßen, Stöhnen, so laut, dass die Leute im Gang einen Moment stehen bleiben und uns um unsere Leidenschaft beneiden.
»Ganz wie du meinst«, erwidert er. Ich spüre, wie etwas in meinem Innern zusammenfällt. »Warum kommen Sie nicht mit, wenn wir in Nanjing essen gehen?«, sagt er zu Stacy, als er sich zum Gehen anschickt.
Sie sieht mich an. »Macht es Ihnen nichts aus?«
»Je mehr, desto besser.«
»Dann bin ich dabei.«
Nach dem Mittagessen mache ich dann doch lieber einen Spaziergang über das Schiff, auf der Suche nach Graham, obwohl ich mir albern vorkomme. Was soll ich ihm sagen, wenn ich ihm über den Weg laufe? Ich entdeckte ihn an der Reling, er steht an derselben Stelle, an der wir uns letzte Nacht zum ersten Mal begegnet sind. Er grinst. »Sie haben mich also gefunden.«
Irgendetwas in meinem Innern sagt mir, dass es besser wäre zu gehen, die Geschichte unter einem Vorwand zu beenden, noch bevor sie begonnen hat, doch dann denke ich an Dave und Stacy, die beim Mittagessen die Köpfe zusammengesteckt und sich prächtig amüsiert haben. Ich denke an die Leichtigkeit der Unterhaltung zwischen den beiden, während jedes Gespräch mit mir ihn Mühe zu kosten scheint. Ich denke an die Frau, mit der er sich jeden Monat in einem Café in Chelsea trifft, die Frau, die er an jenem Nachmittag die Klippe hinauftrug, weg von dem brennenden Autowrack, die sich in seine Arme schmiegte wie eine Braut; ich erinnere mich, wie er am Rand der Schnellstraße stand, keuchend vom Aufstieg, und die verbrannte, blutende Frau mit einem Gesichtsausdruck be trachtete, der an Liebe grenzte. Ich denke daran, wie leicht es für ihn ist, mir millionenfach untreu zu sein, auf harmlose Weise, und nehme meinen Platz an der Reling neben Graham ein.
Die Sonne lugt hinter einer dunklen Wolkendecke hervor, der Fluss gleitet rasch unter uns dahin. Die Hänge der Hügel weichen vom Ufer zurück, jede Handbreit Land wurde urbar gemacht, durch die leuchtend grünen Reihen ziehen sich Streifen orangefarbener, verbrannter
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