Im Blut vereint
Schwester war durch Drogen und Krankheit schon genug Böses zugefügt worden. Claudine musste nicht auch noch erfahren, was man Vangie nach ihrem Tod angetan hatte. Dass sie ganz in dem Niemandsland verschwunden war, dem sie sich schon zu Lebzeiten gefährlich genähert hatte. Dass kaum etwas von ihr geblieben war.
Kate stand auf. »Dürfte ich diesen Brief vielleicht ausleihen und kopieren?«
»Ja, okay.« Claudine warf noch einen skeptischen Blick auf das Blatt Papier und stand ebenfalls auf.
Kate ging zur Tür. Jetzt hatte sie den Beleg, den sie brauchte. Vangie war nicht bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Und da Claudine nicht einmal sicher gewusst hatte, ob ihre Schwester tot war, hatte sie deren Leiche auch nicht
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»spenden« können.
Aber woran war Vangie gestorben? Am Crack? An CJK ?
»Sie ist zu so einem Typ ins Auto gestiegen, und dann hat sie keiner mehr gesehen«, hatte Shonda gesagt.
Vangie war irgendetwas Schlimmes zugestoßen. Kate musste Ethan fragen, was Vicky über ihr Verschwinden herausgefunden hatte. Und sie musste ihn davon überzeugen, dass an der Sache mehr dran war, als die Polizei dachte.
»Wahrscheinlich wird sich die Polizei mit Ihnen in Verbindung setzen«, sagte sie auf dem Weg zur Wohnungstür.
»Ja. Sie haben schon mal mit mir gesprochen. Aber sie haben nichts unternommen.«
Die Kinder schauten vom Sofa herüber. »Kate, gehst du?«, fragte Tania. Ihr kleiner Bruder blickte sie nur schweigend an. Anscheinend überließ er das Reden gewöhnlich seiner älteren Schwester.
»Ja. Es war schön, dich kennenzulernen.« Zu Claudine sagte sie: »Sie haben tolle Kinder.«
Claudine gestattete sich ein feines Lächeln, hinter dem man deutlich ihren Stolz spürte. »Ja, sie sind ganz in Ordnung.«
»Na dann, alles Gute.«
Kate verließ die Wohnung und kehrte zu ihrem Auto zurück. Sie hatte bekommen, was sie wollte. In mehr als einer Hinsicht.
Claudine hatte ihr noch einmal vor Augen geführt, wohin Drogensucht führte. Von diesem Weg hatte Kate ihre Schwester abhalten wollen. Aber ihre Schwester hatte ihre Hilfe zurückgewiesen.
Kates Handy klingelte. Sie zuckte heftig zusammen. »Hallo?« Ihre Stimme zitterte, und sie musste schlucken.
»Kate, hier ist Randall.« Man hörte ihm deutlich große Ungeduld an; trotzdem zögerte er jetzt einen Moment. »Ist alles in Ordnung?«
Sie hielt den Atem an. Am liebsten hätte sie Nein gesagt. Nichts war in Ordnung. Der Schmerz über den Verrat ihrer Schwester – denn das war es gewesen, wie sie endlich erkannte: Ihre Schwester hatte den stummen, hartnäckigen Kampf aufgegeben, den sie nach der Verhaftung ihres Vaters gemeinsam geführt hatten, und stattdessen bei Drogen Vergessen gesucht –, der Schmerz darüber drohte all ihre Barrieren zu überschwemmen. Sie war kurz davor, offen zu zeigen, wie sehr es sie verletzt hatte, alleingelassen zu werden. Ohne jede Hilfe mit der Katastrophe fertig werden zu müssen, die ihr Vater heraufbeschworen hatte.
Sie atmete tief ein. Gerade ihr Chef – der mit der einen Hand Trost spenden wollte und sie mit der anderen bestahl – durfte nicht merken, wie tief dieses Gespräch mit Claudine sie aufgewühlt hatte. Wie verwundbar sie gerade war. Wie deutlich man ihr das anmerken konnte.
Sie musste sich zusammenreißen.
Sie musste Claudine beistehen, ebenso wie den Angehörigen der anderen Toten, die
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bestohlen hatte. Und dazu musste sie ihren Chef auf Distanz halten, bis alles erledigt war.
»Es geht mir gut.« Sie versuchte einen möglichst kühlen Tonfall anzuschlagen. Diesmal klappte es.
Am anderen Ende der Leitung herrschte Stille. »Haben Sie meine Nachricht erhalten?«, fragte er vorsichtig.
»Ja.« Wieder sprach sie kühl und distanziert.
»Warum haben Sie nicht zurückgerufen?«
»Ich fand es sinnlos.« Das hatte sie eigentlich nicht sagen wollen, doch im nächsten Moment war sie froh, dass es heraus war, denn es würde Randall jede Sorge um sie austreiben. Sie mussten dringend zu einem professionellen Verhältnis finden, mit gebührendem Abstand zwischen Chef und Arbeitnehmerin, zwischen Managing Partner und angestellter Anwältin im ersten Berufsjahr.
Randall schwieg verblüfft. Trotz Müdigkeit empfand Kate einen gewissen Triumph. So eine Antwort bekam ein Mann wie er wohl nicht oft. Wenn überhaupt jemals. Einen Moment herrschte eisige Stille. »Was wollen Sie damit sagen?«, fragte er dann scharf.
»Nichts.« Sie konnte seine wachsende Feindseligkeit
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