Im Blut vereint
weg. »Sie war meine große Schwester. Meine Halbschwester. Wissen Sie, bevor das mit ihr und den Drogen anfing, hat sie mir immer Geld geschickt und mir geholfen, einen Job in der Drogerie zu kriegen.« Sie blickte sich hilflos in ihrer Wohnung um. »Ohne sie hätte ich das alles hier nie erreicht. Und als ich dann versucht habe, ihr zu helfen …« Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Wange. »Ich habe es wirklich versucht. Aber sie wollte nicht auf mich hören … Sie wollte nur Crack. Wenn ich bei ihr angerufen habe, hat sie immer gleich aufgelegt …«
»Es tut mir so leid«, sagte Kate leise. »Immerhin haben Sie es versucht.«
»Aber es hat nichts gebracht. Sie ist trotzdem tot, verdammt.« Claudine sah sie an. In ihrem Blick lag Zorn, nicht auf Kate, sondern auf sich selbst.
Kate verstand das nur zu gut. Genau das hatte sie damals auch empfunden. Und empfand es noch immer.
»Sie haben Ihr Bestes getan.«
Claudine wandte den Blick ab und sah durchs Fenster hinaus in den Nebel, der über dem Wasser lag. »Vielleicht.«
»Vielleicht wollte sie nicht von Ihnen gerettet werden«, sagte Kate leise.
Die Erinnerung an Imogen drängte sich ihr auf. Wie wütend ihre Schwester sie damals angeschaut hatte, an jenem Abend vor fünfzehn Jahren.
»Ich will noch nicht nach Hause. Hör auf, mich rumzukommandieren, Kate. Ich kann das selbst entscheiden!«
»Ja, klar. So wie du dich entschieden hast zu koksen, was?«
Einen Moment lang hatte sie beschämt den Blick abgewandt. Nur um Kate gleich darauf wütend anzufunkeln. »Mir gefällt’s. Und es tut niemandem weh!«
Dann war sie in das Haus zurückgekehrt, zu dem sie und Kate gemeinsam gefahren waren. Weil hier
die
Party stattfand, bei der alle unbedingt dabei sein wollten. Kate schaute ihr nach, hin- und hergerissen zwischen Angst und Wut. Ihre Schwester hörte nicht auf sie, sondern marschierte einfach in die Höhle des Löwen zurück. Imogen wollte nicht mehr beschützt werden.
Kate hämmerte gegen die Tür und holte Imogen dort heraus. Sie drohte allen, die Polizei zu rufen, falls sich ihr jemand in den Weg stellte. Sie wusste, dass ihr Schicksal innerhalb ihres Bekanntenkreises damit besiegelt war. Und es machte sie wütend, dass ihre Schwester sie zu so einem Verhalten zwang. In Zukunft würde Kate auf keine Party mehr eingeladen werden.
Beide kochten sie vor Zorn, als Kate mit quietschenden Reifen losfuhr.
»Ich hasse dich. Ich hasse dich! Hast du gehört?«, rief Imogen. Ihr Gesicht war wutverzerrt.
Kate zuckte zusammen. So hatte ihre Schwester noch nie mit ihr geredet. Seit den schlimmen Zeiten mit ihrem Vater gab es zwischen ihnen eine unausgesprochene Abmachung: Sie würden einander nie wehtun. Sie passten aufeinander auf.
Bis zu diesem Abend.
Imogen schien zu merken, wie tief sie Kate verletzt hatte. Sie verzog sich hinter eine Mauer aus beleidigtem Schweigen.
Dann platzte es aus ihr heraus: »Ich brauche das Zeug, Kate. Ich fühle mich gut, wenn ich es nehme. Dann kann ich endlich alles vergessen. Bitte sag Mom nichts davon. Bitte.«
Kate spürte Verzweiflung in sich aufstiegen. Also deshalb war ihre Schwester in letzter Zeit so geheimniskrämerisch gewesen. Sie hatte heute nicht zum ersten Mal gekokst. Auch nicht zum zweiten Mal. Ihre Schwester entzog sich ihr. Schon seit Monaten. »Du brauchst das Zeug nicht, Gennie. Wir haben doch uns. Du brauchst es nicht.«
»Doch. Ich will es aber. Ich fühle mich nie so gut wie mit Koks.«
Die Angst ließ Kate alle Vorsicht vergessen. »Nein! Es ist falsch, Gennie. Es wird dich umbringen.«
»Nein, wird es nicht«, hatte ihre Schwester erwidert. »Und ich nehme es weiter, ob es dir passt oder nicht!«
Da war ihre Wut zurückgekehrt. Wie konnte Imogen ihr das antun? Jetzt stand sie als die Böse da. Niemand würde mehr etwas mit ihr zu tun haben wollen. Warum erkannte Imogen nicht, dass sie mit dem Feuer spielte? »Du nimmst das nicht noch mal. Ich sage es Mom …«
Etwas Warmes tropfte auf ihren Ärmel. Kate blickte hin; ihr Herz raste. Ihre Hand hatte gezittert, und etwas Kaffee war über den Tassenrand geschwappt. Zwei kleine Rinnsale liefen über ihr Handgelenk.
Sie stellte die Tasse auf den Tisch und wischte sich schnell die Hand ab. Claudine war aufgestanden und hatte die Kaffeekanne geholt.
Kate schüttelte dankend den Kopf. Sie musste aufbrechen, bevor Vangies Schwester nach Einzelheiten fragte. Claudine brauchte nicht zu wissen, was mit Vangies Leiche passiert war. Ihrer
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