Im Blut vereint
Ethan betätigte den glänzenden Messingklopfer. Er hatte die Form eines Löwenkopfes. Das Tier starrte Ethan wütend an. Genau so einen Empfang erwartete er auch von der Richterin.
Sie öffnete die Tür. Ethan versuchte sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr ihr Aussehen ihn überraschte. Unbewusst hatte er damit gerechnet, dass sie ihm in voller Kampfmontur entgegentreten würde – strenges Kostüm, hohe Absätze, makellose Frisur.
Ihr Haar war alles andere als makellos. Offenbar hatte sie eben geduscht, und ungeföhnt saß ihr Bob längst nicht so gut. Statt der Bürokleidung trug sie tadellos sitzende Jeans und einen schwarzen Rollkragenpullover aus fein gestrickter Seide, der sich dezent um ihre Brüste schmiegte.
Doch auch wenn ihr Aussehen unerwartet war – der Ausdruck in ihren hellbraunen Augen war es nicht. Sie glühten vor Angriffslust.
»Euer Ehren, hier ist der Durchsuchungsbeschluss.« Ethan überreichte ihr das Schreiben.
Richterin Carson hielt es auf Armeslänge von sich, wobei sie leicht die Brauen zusammenzog, und las den Text Wort für Wort durch, als hätte sie noch nie einen Durchsuchungsbeschluss gesehen. Dann reichte sie das Schreiben Ethan und gab den Eingang frei.
Während er eintrat, mobilisierte er all seine Erfahrung mit Zeugenbefragungen. Hinter ihm schleppten Redding und Lamond ihre Spurensicherungskoffer und Kameras in die Wohnung.
Richterin Carson musterte die Ausrüstung kritisch.
»Ihr Zimmer ist oben.« Sie deutete die Treppe hinauf. »Das linke Zimmer ist meins. Das rechte ihrs.«
Nicht ein einziges Mal hatte Richterin Carson den Namen ihrer Tochter verwendet. Auch nicht in der Leichenhalle. »Das ist sie«, hatte sie gesagt. Nicht: »Das ist meine Tochter«, oder: »Das ist Lisa.«
Immer nur »sie«.
»Setzen Sie sich, Detective Drake.« Richterin Carson ging die Stufen zum tiefer gelegenen Wohnbereich hinab. Zwischen zwei zimmerhohen Fensterflächen stand ein modernes L-förmiges weißes Sofa, davor lag ein weißer Fellteppich. Durch die Fenster blickte man auf die Public Gardens, das Kronjuwel der Stadt Halifax.
»Eine schöne Wohnung.« Ethan setzte sich auf einen Sessel, mit dem Rücken zum Fenster. Richterin Carson nahm auf dem Sofa Platz. Ihre dunkle Kleidung bildete einen starken Kontrast zu den weißen Lederpolstern.
Ethan blickte sich um. Dem Wohnbereich gegenüber und durch einen Tresen aus poliertem Granit von ihm getrennt befand sich eine offene Küche, klein, aber modern. Sie war bemerkenswert gut aufgeräumt. Auf dem Tresen standen keine Küchengeräte, keine Teller, keine Blumen, nichts. Ethan fragte sich, wie jemand in einer solchen Küche arbeiten konnte. Er dachte an seine eigene Küche: Kräuterpflanzen auf dem Fensterbrett und auf der Arbeitsfläche eine schicke Espressomaschine und eine Nudelmaschine aus Edelstahl. Nach dem Aussehen dieser Küche zu urteilen, benutzte Richterin Carson sie nur, um mitgebrachtes Essen auf Porzellanteller umzufüllen.
Aber was war mit Lisa?
Wo waren die auf dem Fußboden verstreuten Kleidungsstücke, die abgetragenen, achtlos abgestreiften und dann vergessenen Flipflops, die Zeitschriften, Schulhefte, Make-up-Utensilien, MP 3-Player und all die anderen Dinge, die man in einem Haushalt mit weiblichem Teenager normalerweise vorfand?
Ethan legte seinen Notizblock auf den glatten, glänzenden Couchtisch aus Beton und Glas. Auch auf dem Tisch fand sich kein Zierrat. Ebenso wenig auf dem Kaminsims aus Kupfer und Granit. Kein einziges Foto.
Lebte Hope Carson eigentlich hier oder kam sie nur gelegentlich zu Besuch, um nach ihrem Nachwuchs zu sehen?
»Was für Indizien haben Sie bisher gefunden?«, fragte sie ruhig.
Ethan lehnte sich im Sessel zurück. Richterin Carson tat genau das, was er erwartet hatte: Sie riss das Gespräch an sich und stellte Fragen, von denen sie besser als jeder andere wissen musste, dass die Polizei sie der Angehörigen eines Mordopfers nicht beantworten durfte. Nicht bevor der Täter gefasst war.
»Der Fundort wird noch untersucht.«
»Aber irgendetwas werden Sie doch schon gefunden haben.«
Ethan blickte ihr in die Augen. »Ja. Haben wir.« Es war gelogen.
»Ist sie dort am Kornspeicher umgebracht worden?«
»Im Augenblick kann ich nicht über unsere Erkenntnisse sprechen, Euer Ehren.«
Als ihr die Bedeutung seiner Worte klar wurde, zuckte sie zurück. »Um Himmels willen!«
Sie wollte noch mehr sagen, doch Ethan fragte: »Können Sie mir bitte erzählen, was Lisa gestern gemacht
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