Im Blut vereint
um die Toten kümmern, aber manchmal habe ich das Gefühl, dass ich hauptsächlich mit den Altlasten der Lebenden zu tun habe.«
Kate blickte Anna Keane in die hellbraunen Augen. Sie wünschte, sie hätte Anne Keane schon gekannt, als Imogen starb. Die Bestatterin machte einen geradlinigen Eindruck auf sie; sie hätte vermutlich nicht diese einstudierte Anteilnahme oder kaum verhohlene Missbilligung ausgestrahlt wie Mr O’Brien.
Kate reichte ihr die Hand. »Ich glaube, die Angehörigen haben großes Glück, dass Sie ihnen in einer so schwierigen Situation beistehen.«
»Vielen Dank, Ms Lange.« Anna Keane führte sie zum Eingang.
Als Anna Keane die Tür öffnete, fiel Kate plötzlich Shondas andere Freundin ein. »Haben Sie je von einer Vangie Wright gehört? Das ist die Freundin von Lisa, von der niemand weiß, wo sie steckt.«
Anna Keane schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Ms Lange. Der Name sagt mir nichts.« Sie lächelte wieder. »Glauben Sie mir, in diesem Beruf ist das etwas Gutes.«
26
Kate blickte durch die Windschutzscheibe ihres Autos zu
Keane’s Funeral Home
hinüber. Sie war erleichtert. Sie hatte das Gespräch überstanden, ohne sich zu blamieren. Auf eine seltsame Art und Weise hatte es sogar eine kathartische Wirkung gehabt. Die neue Einrichtung, die mitfühlende, modern eingestellte Firmenleiterin – all das überlagerte nun die Erinnerung an den schwach beleuchteten Raum, in dem die tote Imogen gelegen hatte, und an Mr O’Briens steife, missbilligende Haltung ihr gegenüber.
Sein Verhalten hatte der sechzehnjährigen Kate damals mehr als alles andere gezeigt, wie sehr sich ihr Leben verändert hatte. Von einer attraktiven, vielversprechenden jungen Frau hatte sie sich in einen verantwortungslosen Teenager verwandelt, dessen Missetaten fatale Folgen hatten. Es war ein schneller, niederschmetternder Absturz gewesen.
Kate lehnte sich im Fahrersitz zurück. Sie fühlte sich zittrig. Erst jetzt wurde ihr klar, dass sie beim Betreten des Bestattungsunternehmens halb erwartet hatte, Mr O’Brien wiederzusehen. Dass er das Geschäft nicht länger führte und sie seinen tadelnden Blick nicht mehr ertragen musste, nahm ihr eine Last vom Herzen, die ihr vorher gar nicht bewusst gewesen war.
Nun hatte sie ihr Versprechen eingelöst. Sie hatte überprüft, was Karen Fawcett zugestoßen war. Es stimmte alles. Das erleichterte sie am meisten. Denn andernfalls hätte sie die Polizei informieren müssen. Kate konnte sich vorstellen, wie Ethan darauf reagiert hätte, dass sie sich weiter mit dem Fall MacAdam befasste.
Als sie Shondas Telefonnummer wählte, begann ihr Herz vor Erwartung schneller zu klopfen. Sobald sie das auch erledigt hatte, würde sie nach Hause fahren und sich entspannen. Ein Glas Wein trinken und in der einen Zeitschrift über schöneres Wohnen lesen, die Alaska noch nicht zerfetzt hatte. Falls er die nicht heute gefressen hatte …
»Ja?«, meldete sich Shonda gelangweilt.
»Hallo Shonda. Hier ist Kate Lange.«
»Ja?« Diesmal sprach sie etwas lauter.
»Ich habe mich nach den Mädchen erkundigt, von denen Sie mir erzählt haben.«
»Mädchen?«, fragte Shonda mit schwerer Zunge.
Jetzt war Kate nicht mehr freudig erregt, sondern bestürzt. Shonda war offensichtlich auf Droge.
»Sie wissen schon, die Mädchen, die verschwunden sind. Sie haben mir vor ein paar Tagen von ihnen erzählt«, sagte sie langsam und deutlich, damit Shonda sie verstand. »Krissie Burns, Karen Fawcett und Vangie Wright.«
»Oh. Ja. Stimmt.«
Kate zögerte. »Bei Krissie gibt es schlechte Neuigkeiten.«
»Ja. Hab schon gehört«, sagte Shonda matt und ausdruckslos. »Die Cops waren hier und haben Fragen gestellt.«
»Das tut mir leid.«
Am anderen Ende der Leitung war es still. Kate stellte sich Shondas Gesicht vor. Die runden, mädchenhaften Wangen. Die verschlossen und misstrauisch dreinblickenden braunen Augen. Die Intelligenz, die sich in diesem Blick auch verbarg, war durch Vernachlässigung, Angst und Drogensucht fast erstickt.
Kate räusperte sich. »Ich habe die Polizei auf Vangie Wright hingewiesen. Dort wird man der Vermisstenanzeige jetzt noch mal nachgehen.«
»Ja. Ich weiß. Das macht dieser blonde Typ.«
»Ein blonder Typ?«
»Ja. Er hatte ein paar Hunde dabei … Lisa war verrückt nach Hunden, wussten Sie das?«
»Ja, das habe ich auch gehört.« Ein blonder Kerl mit Hunden, der Lisa kannte? Kate umfasste den Telefonhörer fester. »Hieß der Typ vielleicht
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