Im Blutkreis - Roman
Pelze der großen Raubkatzen … Aber wenn der Berg auch strahlte, in seinem Schatten gärte bereits der Aufstand.
Fast vier Jahrhunderte später griffen die Kuschiten, ermutigt durch die Schwäche der Dynastie der Ramessiden, zu den Waffen, gewannen die Unabhängigkeit und wurden mit der Zeit so mächtig, dass sie beschlossen, nach Norden zu marschieren und in Ägypten einzufallen. Das war der Beginn der Pije-Dynastie; danach kamen Schabako und weitere Nachfolger bis hin zu Taharka. Die schwarzen Pharaonen, barbarische und gewalttätige Herrscher, waren die unumschränkten Herren ihres Reichs, das sich vom Mittelmeer bis zum 4. Katarakt erstreckte, und auch wenn sie in Ägypten lebten, vergaßen sie niemals ihre Wurzeln und kehrten zum Sterben in ihr Land zurück. Damals bauten sie ihre ersten Pyramiden und knüpften damit an die Tradition des alten Ägypten an.«
»Aber warum war dieser Berg heilig?«
Der Weise deutete mit dem Finger auf Nathans halb ausgelöschte Zeichnung.
»Siehst du die Felsnadel, die du hier angedeutet hast?«, murmelte Hischam. »Die hiesige Legende erzählt, dass die Pharaonen sich in die Lüfte erhoben, um sie mit Gold zu schmücken und ihre Namen darin einzugravieren… Wenn man diese Spitze im Profil betrachtet, erinnert sie an die Königsstatue, die die weiße Krone, die große Krone Oberägyptens, trägt. Wegen dieses Phänomens glaubten die Pharaonen, dass der Dschebel Barkal in seinem Innern den Gott Amun beherbergte. Deswegen hatten die Könige von Napata im Unterschied zu den ägyptischen Pharaonen, die eine Krone mit nur einer Schlange, der Kobra, trugen, zwei Schlangen auf ihrer Kopfbedeckung. Aufgrund der Tatsache, dass dieser Berg sich auf ihrem Gebiet befand, hielten sie sich für auserwählt und präsentierten ihre Herrschaft dem Volk von Ägypten als eine Rückkehr zu der ursprünglichen Form des Pharaonentums und spielten sich als die direkten Thronerben der alten großen Herrscher auf. Sie wurden ägyptischer als die Ägypter selbst.«
Nathan staunte über das Wissen des alten Mannes.
»Woher weiß er das alles?«
»Er ist ein ehemaliger Grabräuber. Er hat alle Nekropolen von El-Kurru bis Meroë erforscht. Um die Grabkammern zu finden, von denen die meisten unter dem Sand verschwunden sind, musste er die Geschichte dieser Menschen studieren. Er hat unser Dorf über viele Jahre ernährt …«
Nathan musste unwillkürlich an die Verbindungen denken, die zwischen den Kopten und den Pharaonen bestanden, an seine eigene Reise, die ihn in der Zeit zurückführte, und an seinen Weg, der zu den Quellen des Nils führte. Die Geschichte, die er soeben gehört hatte, versetzte ihn in eine andere Legende zurück, die des Blutkreises, die der alte Priester in Alexandria ihm erzählt hatte. Diese beiden Erzählungen wiesen Ähnlichkeiten auf, die er nicht ignorieren konnte: die Art und Weise, wie Antonius aus Caesarea und seine Kriegermönche in die Wüste gegangen waren; die Art und Weise, wie dieser Mann selbst eine Rückkehr zu den Wurzeln seiner eigenen Religion vollzogen hatte, indem er die Geschichte Christi neu schrieb, um sie zu seiner zu machen, dieses tiefe Verlangen nach Macht, nach Vereinigung mit dem göttlichen Wesen…
Neue Fragen stellten sich ihm.
»Frag ihn, was passiert ist, warum behauptet er, dass dieser Ort verflucht ist?«
Hischam wandte sich dem Greis zu und übersetzte ihm Nathans Frage.
»Er sagt, dass die Grabstätten vor Schätzen überquellen, aber dass die Grabräuber, die in sie eingedrungen sind, nicht zurückgekehrt sind. Er sagt, dass er nur deswegen noch am Leben ist, weil er nie dort gewesen ist.«
Nathan erschauerte. Schon wieder gab es Gemeinsamkeiten. Diesmal nicht mit den Kopten, sondern mit den Dämonen des Camps in Katalé.
»Was weiß er sonst noch über diesen Fluch?«
Mit klopfendem Herzen beobachtete Nathan, wie Hischam und der Weise ein paar Sätze wechselten.
»Nichts«, sagte Hischam, »das ist alles, was er weiß.«
»Ist er sicher, dass er niemals dort gewesen ist, dass er nichts gesehen hat?«
»Ja, Nathan, selbst die Einwohner von Karima wagen sich dort nicht hin, nur die Mönche dürfen sich den Pyramiden nähern …«
Hischams letzter Satz traf ihn wie ein Peitschenhieb.
»Was für Mönche? Wovon spricht er?«
»Er spricht von den Kopten des schwarzen Klosters, der einzigen Gemeinschaft im Sudan. Sie leben am Fuß des reinen Bergs … des Dschebel Barkal.«
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Ein neuer Fluch, die pharaonischen Wurzeln,
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