Im Blutkreis - Roman
leisten, und darüber hinaus über eine gewisse Unabhängigkeit, da ich mich ausschließlich um die Bestände der Bibliothek kümmere. Kurz und gut, Sie haben mich angerufen, und ich habe positiv geantwortet. Sie haben die Gelegenheit beim Schopf gepackt.«
Nathan schwieg ein paar Augenblicke, bevor er fragte: »Haben Sie die Arbeit beendet?«
»Noch nicht. Im Augenblick habe ich lediglich die ersten Seiten
transkribiert. Es ist eine gewaltige Arbeit, und das vollständige Studium wird eine Menge Zeit erfordern. Der größte Teil des Manuskripts ist beschädigt worden, und der Text ist praktisch ausgelöscht, aber ich bin trotzdem ganz zuversichtlich.«
»Wovon handelt er?«
»Er ist das Tagebuch eines Edelmanns, Elias de Tanouarn, aus Saint-Malo-en-l’Île, der ehemaligen französischen Freibeuterstadt, und um ganz offen zu sein, es hat ziemlich wenig mit dem zu tun, was Sie mir ursprünglich ankündigten.«
»Inwiefern?«
»Ich würde es vorziehen, dass Sie den Text selbst lesen, Lello ist mit der Transkription fast fertig, es ist ein altes Französisch. Der Ausdruck müsste morgen Abend vorliegen.«
Das erste schüchterne Licht der Morgendämmerung erhellte Woods Gesicht. Der Engländer musste um die fünfzig sein. Ein hageres, bartloses Gesicht, schwarzes Haar, durchzogen von Silberfäden und nach hinten gekämmt. Von Kopf bis Fuß grau gekleidet – Pullover mit V-Ausschnitt, Baumwollhemd, Wollhose, geschnürte Lederschuhe –, strahlte sein geschmeidiger und schlanker Körper eine ungewöhnliche Kraft aus. Seine Hakennase und sein durchdringender Blick verliehen ihm das Aussehen eines Adlers. Eine undurchdringliche Stille herrschte in dem Raum, als stünde die Zeit plötzlich still. Die beiden Männer hatten aufgehört zu reden; etwas Verblüffendes ereignete sich zwischen ihnen. Es war, als würden zwei Menschen sich wortlos erkennen, so wie man einen Bruder erkennt. Eine Osmose, die keiner von beiden hätte erklären können, schien sie immer stärker zu verbinden. Nathan war jetzt sicher, dass auch der Engländer seine Geheimnisse hatte.
»Sagen Sie, Ashley, ist die Sig die Dienstwaffe der Bibliothekare?«
Woods lächelte leicht; ohne zu antworten, forderte er Nathan
auf, ihm zu folgen. Erneut gingen sie durch die dunklen Gänge und die Treppen hinunter, bis sie in einen eindrucksvollen Garten kamen, in dem sich zwischen den perfekt beschnittenen Bäumen Blumen, Blätter und Gräser mischten, deren Farben und Düfte ebenso zart wie der Morgen waren. Nathan blickte hoch. Vor ihm erhob sich das Hauptgebäude der mittelalterlichen Bibliothek.
Der große, helle Saal ragte himmelwärts. Auf jeder Seite der grauen Steinmauern fiel durch schmale Öffnungen ein schwaches Ostlicht auf die Pulte aus glatter brauner Eiche, die sich zu beiden Seiten des Mittelgangs ausbreiteten. Vom Boden schossen zwei Reihen schmaler kannelierter Pilaster in die Höhe, die allein das ganze Gewicht des Gebäudes zu tragen schienen. Nathans Stimme zerriss die Stille: »Wo sind wir hier?«
»Im Herzen der Malatestiana… Ihre Geschichte beginnt 1452. Sie hat ihren Namen von Novello Malatesta, Fürst von Cesena. Ein außergewöhnlicher Mann. Als er den Franziskanern dieses Heiligtum schenkte, entwarf er damit eines der ersten Modelle der öffentlichen Bibliothek. Die Farben seiner Waffen schmücken die Kästchen, die die Schreibutensilien enthalten. Sehen Sie nur die Feinheit der Rosette, der gotischen Bögen… Ein architektonisches Juwel. Der Mann, der sie gebaut hat, war Matteo Nuti. Er hat sich von der Bibliothek des Dominikanerklosters San Marco in Florenz inspirieren lassen, die Michelozzo ein paar Jahre zuvor entworfen hatte.«
Während Nathan aufmerksam zuhörte, ging er mit langsamen Schritten über die großen Terrakottafliesen. Die zahlreichen, aus Milchglasscheiben zusammengesetzten Fenster tauchten den Saal in ein reines und diffuses Licht, das sich an den Bögen der Gewölbe brach. Er konnte beinahe das Gemurmel, die Gebete der Mönche hören und den Atem ihres Glaubens auf seiner Haut spüren.
»Die Sammlung ist außergewöhnlich, mehr als vierhunderttausend
Bände. Kostbarkeiten von unschätzbarem Wert: Inkunabeln, Kodexe, seltene Manuskripte. Vom Tractatus in Evangelium Johannis des Augustinus über Plutarchs Vitae , Rusios Liber Marescalciae oder absolut seltene Bibelausgaben bis hin zu Ciceros De Republica … Es ist alles vorhanden.«
Als Nathan ein prächtiges Buch – eine Naturalis Historia
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