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Im Blutkreis - Roman

Im Blutkreis - Roman

Titel: Im Blutkreis - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Limes
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von Plinius dem Älteren – das auf einem der Pulte lag, in die Hand nehmen wollte, wurde er von einem metallischen Klirren überrascht. Er begriff, dass jeder der Bände an seinem Platz mit einer Kette befestigt war, damit nichts gestohlen werden konnte.
    »Wir befinden uns im Scriptorium, das ebenfalls als Lesesaal diente. Generationen von Mönchen haben hier ihre Augen und ihr Leben ruiniert. Die am besten beleuchteten Plätze waren den Illuminatoren, den Rubrikatoren und den Kopisten vorbehalten, die unermüdlich arbeiteten. Andere kamen nur, um zu lesen oder sich Notizen zu machen. Sehen Sie nur, berühren Sie das patinierte Holz, die vom Abdruck des Göttlichen und des Friedens berührte Materie. Man sieht noch die Spuren, die die Tintenhörner hinterlassen haben, die Kratzer der in die Goldfarbe getauchten Federn und der Bimssteine, die verwendet wurden, um die Pergamentblätter zu glätten. Die berühmtesten Männer, Jean d’Épinal, Francesco da Figline, Annibal Caro, sein Freund Paolo Manuzio, haben diese knorrigen Bänke mit ihrer Inbrunst getränkt.«
    Woods schien von diesem Ort besessen. Eine helle Flamme tanzte in ihm. Sein Leben, der Inhalt seines Lebens befand sich zwischen diesen Mauern.
    Diesmal würde Nathan ihn nicht so leicht davonkommen lassen: »Und was hat Sie hierher geführt?«
    Der Engländer hielt den Atem an, als würde das, was er sagen würde, unwiderruflich die Bahn ihres Schicksals verändern.

    9
    »Ich bin nicht immer Bibliothekar gewesen, wie Sie zu Recht vermuten. Ich wurde in London geboren. Mein Vater war Offizier der britischen Armee, und meine Mutter kam aus Malta. Ich hatte eine glückliche Kindheit in Cadogan Gardens, nur ein paar Schritte von King’s Road entfernt, deren Einzelheiten ich Ihnen erspare. Mit siebzehn bin an die Universität gegangen, ans King’s College in Cambridge, wo ich vier Jahre lang Latein, Griechisch und Etruskisch studiert habe. Im September 1968 bin ich einem Mann begegnet, der mein Leben entscheidend verändert hat: John Chadwick, er war mein Griechischprofessor. Ich war ein brillanter Student, und wir haben uns rasch angefreundet. Nach und nach hat er mir die Tore zu seiner Welt geöffnet.
    Während des Krieges hatte er als Experte für Kryptoanalysis, die wissenschaftliche Entschlüsselung kodierter Texte, in Bletchley Park gedient, einer militärischen Geheimdiensteinheit, die die Aufgabe hatte, die Codes der feindlichen Streitkräfte abzufangen und zu knacken. Später, 1953, hatte Chadwick zusammen mit seinem jungen Freund, dem Architekten Michael Ventris, das Geheimnis der Linear B gelöst, einer unentzifferbaren kretischen Schrift, die zu Beginn des Jahrhunderts auf Tontäfelchen entdeckt worden war. Gemeinsam hatten sie das gebildet, was Chadwick gern den ›perfekten Kryptologen‹ nannte: die Allianz eines Wissenschaftlers mit einem Gelehrten. Enttäuscht von meinem Vater, der seine Zeit zwischen dem Generalstab und mondänen Abendgesellschaften aufteilte, machte ich John zu meinem Helden.
    Ich glaube, der Wunsch, in Geheimnisse einzudringen, ist tief in der menschlichen Seele verankert, selbst der Desinteressierteste gerät in helle Aufregung bei der Vorstellung, über eine Information zu verfügen, die anderen vorenthalten wird.
Bei mir hat diese Neugier sich als krankhaft herausgestellt. Der Kontakt mit Chadwick hat in mir einen Heißhunger auf Geheimcodes und alte Schriften geweckt. Er hat meinem Leben seinen Sinn gegeben.
    Er hat mich in die Analyse von Geheimschriften eingeführt. Anfangs hat er mir zur Übung bekannte, aber komplexe historische Texte zum Entziffern gegeben. Ich habe mehrere legendäre Rätsel gelöst, wie den Code, den Maria Stuart bei ihrem Mordkomplott gegen Elizabeth von England benutzt hat, die zusätzlichen Anmerkungen zu Geoffrey Chaucers Abhandlung über das Astrolabium oder Blaise de Vigenères berühmtes Quadrat, das stets als nicht zu knacken gegolten hatte. Meine ersten Erfolge. Ich war infiziert. Im Laufe der Zeit entwickelte sich eine Art Vater-Sohn-Beziehung zwischen Chadwick und mir. Wir haben niemals offen darüber gesprochen, aber ich wusste, dass er in mir wiedergefunden hatte, was er für immer verloren zu haben glaubte. Sein Freund Ventris war bei einem tragischen Unfall ums Leben gekommen, nur ein paar Monate nach ihrer Entdeckung.
    Nach und nach begriff ich den Hintergedanken des alten Mannes. Er wollte aus mir diesen berühmten perfekten Kryptologen machen. Ich ganz allein sollte die

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