Im Blutkreis - Roman
sich langsam.
»Bleiben Sie, wo Sie sind!«
Der Engländer blieb stehen und sah Nathan mit einem Blick an, in dem sich Verblüffung und Neugier mischten.
»Ich wiederhole, dass ich Ihnen nichts tun will. Mein Misstrauen mag Ihnen unangemessen vorkommen, aber ich habe meine Gründe …«
»Was für Gründe?«
»Es gibt hier extrem wertvolle Bücher.«
Nathan glaubte nicht ein Wort von dieser Büchergeschichte. Auch wenn er ziemlich leicht die Oberhand gewonnen hatte, waren Woods Reaktionen nicht die eines Direktors einer verstaubten Bibliothek gewesen, sondern die eines Profis. Mit was für einem Mann hatte er es zu tun?
»Wer sind Sie, Woods?«
»Wir sollten nicht die Rollen tauschen!«
»Warum haben Sie nicht einfach die Polizei gerufen?«
»Ich bin es gewohnt, meine Probleme selbst zu lösen. Belassen wir es dabei, ich denke, nach der Tracht Prügel, die Sie mir da eben versetzt haben, sind wir quitt. Sie können ganz schön zuschlagen … Was ist los mit Ihnen? Erzählen Sie …«
Nathan hörte den Mann nicht mehr, er fühlte sich von seinem Bewusstsein gefangen wie ein Vogel in einem Käfig. Er versuchte, die Stücke wieder zusammenzukleben, rief sich das Fax ins Gedächtnis zurück. Der Empfänger war nicht angegeben. Der Mann sagte vielleicht die Wahrheit. Er musste eine Entscheidung treffen. Rasch.
»Hören Sie, Woods, meine letzten Erinnerungen reichen drei Wochen zurück. Ich habe bei einem Tauchunfall das Gedächtnis verloren. Ich habe Ihr Fax in einer leeren Wohnung gefunden, die ich in Paris gemietet habe. Ich bin hergekommen, weil ich denke, dass Sie mir weiterhelfen könnten. Ich habe keinerlei Erinnerung, weder an Sie noch an irgendetwas anderes, das meine Vergangenheit betrifft.«
Der Bibliothekar hörte ihm aufmerksam zu. Er nahm einen Stuhl, setzte sich ihm gegenüber und forderte ihn auf fortzufahren. Nathan erzählte den Rest.
»Haben Sie denn niemanden? Familie, Freunde?«, fragte Woods.
»Niemanden.«
Der Bibliothekar stand auf und fasste sich an den Hals.
»Kommen Sie, ich denke, wir können einen Kaffee gebrauchen.«
Nathan beobachtete die Vorbereitungen von der Küchentür aus. Woods schüttete braune Bohnen in eine kleine, elektrische Mühle und fügte dann andere, hellgrüne, hinzu, die wie Jadeperlen aussahen. Er stellte den Feinheitsgrad des Mahlvorgangs ein und schaltete die Mühle ein. Ein scharfer Geruch ging von der Mischung aus. Woods füllte sie in den Metallfilter des Espressoautomaten um, wartete schweigend, dass die dicke und erdölschwarze Flüssigkeit dampfend aus der Kaffeemaschine quoll, und goss sie in zwei Henkelgläser, die auf dem Tisch standen. Nathan nahm das heiße Glas und führte es an die Lippen.
»Ich fürchte, mein lieber Pierre, dass …«
»Mir ist Nathan ebenso lieb, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«
»Schön, ich fürchte, dass ich Ihnen auch nicht viel mehr sagen kann. Wir haben uns nur ein einziges Mal getroffen. Sie haben mich Anfang Februar besucht, um mir ein altes Manuskript in sehr schlechtem Zustand anzuvertrauen. Ein gebundenes
Werk, etwa hundert Seiten, vom Ende des 17. Jahrhunderts. Sie haben mich gebeten, es zu übersetzen und die fehlenden Teile zu rekonstruieren. Ein Bericht über diese Arbeit sollte Ihnen Auskunft über die Position und die Art der Fracht eines Schiffs geben, das zu genau dieser Zeit im Meer versunken ist.«
»Habe ich mich auf irgendjemanden berufen?«
»Nein, Sie haben mich direkt kontaktiert und mir von Ihrem Projekt erzählt, das mich interessiert hat.«
»Haben Sie irgendeine Ahnung, warum ich mich an Sie gewandt habe? Sie leben weit weg von Paris, sind Engländer. Gibt es in Frankreich keine kompetenten Leute für diese Art von Arbeit?«
»Es gibt in Paris zahlreiche Fachleute, die überaus erfahren im Umgang mit solchen Manuskripten sind. Aber das kam für Sie absolut nicht in Frage.«
»Und wissen Sie, warum?«
»Ja, in diesem präzisen Fall erforderte das Studium des Dokuments angesichts der starken Verstümmelung des Textes neben der Interpretation durch einen Literaturwissenschaftler auch den Einsatz von Techniken, die mehr mit Physik und Chemie als mit Literatur zu tun haben. Es gibt in Frankreich derartige Laboratorien, aber sie sind Privatleuten kaum zugänglich. Die Institution, die ich leite, ist eine der renommiertesten in Europa, und ich bin in der glücklichen Lage, hier über technische Hilfsmittel zu verfügen, die bei dieser Art von Untersuchungen hervorragende Dienste
Weitere Kostenlose Bücher