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Im Blutkreis - Roman

Im Blutkreis - Roman

Titel: Im Blutkreis - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Limes
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einzutauchen. Einen Augenblick lang konnte er nur noch die Propeller erkennen, die die dicken Nebelschwaden durchschnitten…
    Und dann tauchten die Inseln vom Ende der Welt auf, grau und spitz, wie große Kronen aus Stein, die stolz in den Himmel ragten. Ringsumher bedeckte das zerbröckelte Packeis noch das schwarze Meer. Nathan fühlte sich an einen alabasterfarbenen, mit Onyx gemaserten Vorplatz erinnert. Das Flugzeug kreiste noch zehn Minuten um den Archipel, bevor es auf der schmalen Landebahn aufsetzte.
    Die Ankunftshalle war ein plumper Betonklotz, in dem verblasste Werbeplakate hingen, auf denen Familien in Kajaks, Schneemobile oder Exemplare der einheimischen Fauna und Flora zu sehen waren. Gegen siebzehn Uhr sammelte Nathan sein Gepäck ein und stieg dann in Gesellschaft der anderen Passagiere in den Minibus, der den Flughafen mit der Hauptstadt des ewigen Eises verband.
    Eingekeilt zwischen Küste und Bergen, hatte Longyearbyen eigentlich nichts von einer Stadt, es war vielmehr eine Art dörfliche Forschungsstation, die ihre in lebhaften Farben gestrichenen Holzhäuser wie ein Rosenkranz seine Perlen in einem schwindelerregend tiefen Tal aneinander reihte.
    Auf den Rat des Busfahrers hin beschloss Nathan, in der Radisson Polar Lodge abzusteigen. Ein Luxushotel aus Holz und Glas, das unvermeidliche Quartier der Nordpolexpeditionen. Sein Zimmer war hell und geräumig und bot einen unverbaubaren Blick auf das Tal und das Meer. Es wäre sicher am einfachsten
gewesen, das Zollamt oder die Hafenverwaltung aufzusuchen, aber da seine Nachforschungen nicht publik werden durften, verbot sich jeder Kontakt mit den Behörden. Hier, unter den ersten Touristen der Saison, bestanden die größten Aussichten, dass er unbemerkt bleiben würde. Er beschloss, später auszugehen, die Dunkelheit würde ihm erlauben, sich zu bewegen, ohne aufzufallen.
    Eine Stunde, die er totzuschlagen hatte.
    Nathan suchte in den Schubladen des Schreibtischs und fand einen Faltprospekt, der Telefonbuch und Touristenführer in einem war. Er legte sich auf das Bett und studierte ihn. Die Vorderseite verzeichnete die Bars, die Geschäfte, die Kirche und die öffentlichen Einrichtungen, auf der Rückseite fand er einen Stadtplan. Innerhalb von zwanzig Minuten hatte er genügend Informationen über die Anordnung der Wohnblocks, der wichtigsten Straßen und des Hafens gespeichert, um sich problemlos in dieser Stadt zurechtfinden zu können.
    Es war kurz vor neunzehn Uhr. Nathan richtete sich auf und wandte den Kopf zum Fenster. Die Nacht zog über der Bucht herauf. Der Augenblick war gekommen, die Jagd zu beginnen.
     
    Minus vierzehn Grad Celsius. Das Barometer an der Fassade des Hotels zeigte rund um die Uhr die Außentemperatur an. Nathan zog sich die Mütze über die Ohren, steckte die behandschuhten Fäuste in die Taschen seines Parkas und beschloss, dem Weg zu folgen, der den Schneemobilen vorbehalten war. Er würde ihn zu dem Fußweg bringen, der ins Stadtzentrum führte.
    Von einem kräftigen Höhenwind fortgeblasen, hatten die Wolken einen klaren und schimmernden Himmel zurückgelassen. Nathan ging wie im Traum. Windböen, die von der Bucht kamen, überschütteten ihn mit Düften, dem Jodgeruch der grauen Sandstrände, dem süßlichen Atem der Moose und Flechten. Als er über die Brücke lief, die über die Longyear-elva
führte, den zugefrorenen Wasserlauf, der das Tal teilte, ließ er seinen Blick über die Felswände und die mondbeschienenen Kämme wandern: Die Schneeschmelze hatte eingesetzt, und da und dort traten Stellen schwarzen Grases hervor, die mit den ersten weißen Knospen der arktischen Blumen durchsetzt waren. Nathan liebte es, sich allein der unverfälschten Reinheit dieser Elemente gegenüberzusehen, den zerklüfteten Felsen, der Weite der Wüste, dem sanften oder heulenden Wind, den nichts aufhalten kann… Das war ein Gefühl, das tief in ihm verankert war, ein Stück seiner selbst, das im Rhythmus seines Herzschlags pochte.
    Seit er das Hotel verlassen hatte, war er keiner Menschenseele mehr begegnet. Die Häuser waren leer, die ganze Stadt wirkte verlassen. Er kam sich vor wie der letzte Überlebende von Thule. Erst als er die Skjœringa-Kreuzung erreichte, traf er wieder auf Anzeichen menschlichen Lebens. Die Fenster waren beleuchtet, aus der Ferne drang Gelächter zu ihm. Er ging schneller. Zehn Minuten später hatte er die Küste erreicht.
    Der Hafen bestand aus drei Kais mit Hafenbecken, in denen riesige Stücke

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