Im Blutkreis - Roman
Schweigen herausgeholt hattest. Du hast ihnen von der Wüste, vom Meer, vom ewigen Schnee erzählt, man konnte glauben, du wolltest versuchen, ihnen ganz allein eine andere Welt zu errichten, ihnen die Türen zu einem neuen Leben voller Versprechen und Hoffnungen zu öffnen.«
Die Kinder… Nathan notierte sich diese erstaunliche Information in einer Ecke seines Gedächtnisses und fragte dann: »Weißt du, warum ich mich so eingesetzt habe?«
»Nein.«
»Hab ich dir von meinem Leben, meiner Familie erzählt, erinnerst du dich an Gespräche, die wir gehabt haben?«
»Das ist so lange her … Nein, du warst sehr zurückhaltend, ich denke, du hast nicht gern über dich gesprochen und wolltest übrigens auch nicht, dass man dir Fragen stellte. Dagegen erinnere ich mich, dass wir häufig über die Ideologie der Völkermorde diskutierten. Das war etwas, das dich … verfolgte.«
»War es ein Thema, in dem ich mich auskannte?«
»Ja. Eines Abends kam es sogar zu einer hitzigen Diskussion zwischen dir und einem anderen Typen, Christian Brun, einem ziemlich überheblichen Notarzt, die Karikatur des Menschenfreunds, wie er schlimmer nicht sein kann, die Sorte, die immer alles besser weiß. Er hatte sich in einen Vergleich zwischen den Hutu-Milizen und den Denunziationsmethoden Hitlers und Stalins gestürzt. Du hattest ihn in aller Freundlichkeit daran erinnert, dass die Verbrechen der Nazis und Kommunisten auf das Konto von spezialisierten Organen wie der SS oder des NKVD gingen, wohingegen das System in Ruanda dafür sorgte, dass der Völkermord zu einer kollektiven, flächendeckenden Angelegenheit wurde, an der die gesamte Bevölkerung beteiligt war.«
»Habe ich mich jemals irgendwie auffällig verhalten?«
»Auffällig verhalten? – Ja, da gab es tatsächlich etwas, das eigenartig war.«
»Was?«
»Aus Prinzip lebt das Personal der Nicht-Regierungsorganisationen, das im Ausland tätig ist, nicht in den Lagern, sondern kehrt jeden Abend in seine Basisstation zurück. In diesem Fall hatten wir ein Haus in dem Dorf Kibumba gemietet, ein Ort, der uns Sicherheit gab, wo wir für ein paar Stunden am Tag für uns waren, ohne der Gewalt und dem Elend ausgesetzt zu sein. Das war die einzige Möglichkeit, durchzuhalten und zu verhindern, dass unser Material gestohlen wurde…«
»Und?«
»Ich erinnere mich, dass du meist mit uns gekommen bist, aber ein paarmal kam es vor, dass du im Lager bei den Waisen geblieben bist. Du sagtest, sie bräuchten dich und du könntest sie nicht im Stich lassen…«
Nathan schwieg ein paar Augenblicke, dann fragte er: »Erinnerst du dich an irgendwelche Vorkommnisse im Lager, die irgendwie aus dem Rahmen fielen?«
»Nein. Abgesehen von all den grauenhaften Dingen wie Schutzgelderpressung, Prostitution, Vergewaltigung, die an der Tagesordnung waren, erinnere ich mich an nichts.«
Nathan wagte eine letzte und heikle Frage: »Was für eine Art Beziehung hatten wir? Haben wir uns … gut verstanden?«
»Wir beide?«
Nathan nickte.
Rhoda lachte kurz und freudlos, und die Wehmut, die er aus ihrem Lachen heraushörte, gab ihm einen Stich ins Herz.
»Wir waren uns sehr nah … du bist nur sehr kurz geblieben …«
»Nah … auf welche Weise?«
Erneut antwortete Rhoda nicht sofort.
»Ich war so gut wie verheiratet … ich war die Lebensgefährtin
von Paolo Valente.« Sie war aufgestanden und blickte ihn an. »Du bringst mich in Verlegenheit mit deinen Fragen.«
»Tut mir leid … ich versuche nur zu verstehen, was ich dort gemacht habe. Ich glaube nicht mehr als du an meine journalistische Vergangenheit … Ich muss aus einem anderen Grund in diesem Camp gewesen sein …«
Rhoda schien nichts mehr hören zu wollen; dennoch fragte sie: »Glaubst du, es könnte ein Zusammenhang bestehen zwischen deinen jetzigen Nachforschungen und deinem Aufenthalt in Zaire?«
»Ich weiß es nicht, aber ich habe das Gefühl, dass sich hinter meiner Identität ein Abgrund des Schreckens öffnet.«
»Warum tust du das? Warum wendest du dich nicht einfach an die Polizei?«
»Die Polizei? Abgesehen von drei Soldaten, die vor achtzig Jahren starben, und einem verstaubten Manuskript habe ich keinerlei Beweise. Und außerdem scheinst du eines nicht zu begreifen.«
»Was?«
»Ich existiere nicht.«
24
Nathan erwachte allein in dem lichtdurchfluteten Zimmer. Rhoda war gegangen, ohne ihn zu wecken. Einen Augenblick lang betrachtete er die weiße Decke und blickte dann auf seine Uhr: zehn Uhr
Weitere Kostenlose Bücher