Im Blutkreis - Roman
Ruanda nach Jahren des Rassenhasses und zahlreicher Versuche gegenseitiger ethnischer Säuberungen zwischen Hutu und Tutsi nach dem 6. April 1994, dem Tag, an dem das Flugzeug des Hutu-Präsidenten Juvénal Habyarimana in der Luft von einer Rakete abgeschossen wurde, ins Grauen gestürzt wurde. Historisch gesehen die Vasallen der Tutsi-Lehnsherren, empfinden die Hutu dieses Attentat als allerletzten Affront und beschließen, dass die Stunde der ›Endlösung‹ geschlagen hat. Der Aufruf zum Mord wird auf alle ausgedehnt: Die Tutsi, diejenigen, die sie beschützen, und all jene, die sich in irgendeiner Weise gegen das herrschende Regime stellen, sollen vernichtet werden. Das große Massaker. Nach drei Monaten
Bürgerkrieg und einer Million Toten gelingt es der Tutsi-Armee, das Land unter Kontrolle zu bringen und erneut die Macht zu übernehmen. Die humanitäre Situation ist dramatisch: Hunderttausende von Tutsi sind bereits in die Nachbarstaaten geflohen, nach Tansania, nach Uganda … Um die anderthalb Millionen Hutu kommen nach Zaire, der heutigen Demokratischen Republik Kongo.«
»Das Flüchtlingscamp in Katalé war also ein Hutu-Lager.«
»Das und all jene im Gebiet von Goma.«
»Beschreib mir den Ort.«
»Ein mal zwei Kilometer zwischen Vulkan und Wald. Zweihundert Hektar Schlamm, Elendsquartiere und Ungeziefer, wo Kriminalität, Ruhr und die gute alte Cholera wüten… Fünfzigtausend Flüchtlinge, sechzig humanitäre Organisationen …«
»Sechzig?«
»Das ist gar nicht so viel, oft sind wir mehr. Eine einzige Organisation, die meist im sozialen Bereich tätig ist, verwaltet das Lager in Abstimmung mit einem Vertreter des Hochkommissariats für Flüchtlinge der Vereinten Nationen, und die anderen bringen ihr Know-how ein.«
»Weißt du, warum ich zu euch, zu One Earth, gekommen bin?«
»Ja, Paolo Valente, der Chef der psychiatrischen Zelle, hatte dich auf der Straße aufgelesen. Draußen herrschte der Weltuntergang: Mord, Plünderungen, Vergeltungsakte … Er hatte dir Schutz im Lager angeboten.«
»Kannte ich ihn?«
»Ich glaube, ihr hattet euch im Flugzeug oder am Flughafen von Goma kennen gelernt, ich weiß nicht mehr …«
»Und hattest du mich vorher schon gesehen?«
»Nein.«
»Du sagtest, ich sei Journalist gewesen, weißt du, ob ich für ein bestimmtes Presseorgan gearbeitet habe?«
»Also, ich glaube, du warst freier Journalist, du hast deine Reportagen an verschiedene Magazine verkauft.«
»Könntest du mir beschreiben, wer ich damals war, mir ein Porträt von Alexandre Dercourt entwerfen?«
»Ein psychologisches Profil?«
»Ja.«
»Alexandre war ein fröhlicher, kultivierter, eleganter Mann, manchmal ein bisschen … aggressiv in seinen Reaktionen. Du hast jeden sofort für dich eingenommen, du warst wie eine frische Brise, aber was mich, glaube ich, am meisten beeindruckt hat, war dein Verhältnis zu den Kindern …«
»Was meinst du damit?«
»Unmittelbar nach deiner Ankunft hast du deine Reportage aufgegeben, um dich um sie zu kümmern. Diese Kinder waren vollkommen verstört … Sie hatten gesehen, wie ihre Eltern ihre Nachbarn, ihre Freunde, ihre Lehrer enthauptet, verstümmelt, ermordet hatten… Manche hatten, angestiftet von ihren eigenen Eltern, selbst ihre Hände im Blut gebadet. Viele von ihnen haben sich davon nicht mehr erholt, sie haben ein autistisches Verhalten entwickelt. Du bist ganz spontan auf diejenigen zugegangen, denen es am schlechtesten ging, es war verblüffend. Ich erinnere mich noch sehr gut an einen Jungen – ein besonders widerwärtiger Fall: Der Lehrer der Schule, in die er ging, war eines Morgens mit einer Tasche voller Macheten, Hacken, Spitzhacken angekommen und hatte den Hutu-Schülern befohlen, ihre Kameraden aus der Tutsi-Klasse zu ermorden. Der Junge hat sich geweigert und versucht wegzulaufen, aber der Lehrer hat ihn wieder eingefangen, geschlagen und damit gedroht, seine Familie zu töten … Um mit gutem Beispiel voranzugehen, hat er ihm ein Baby in die Arme gedrückt und ihn gezwungen, es mit einem Maniokstampfer zu zerquetschen. Seine Mutter, die aus Kigali geflohen war, hat uns, dir und mir, seine Geschichte erzählt. Das Kind war bis auf die Knochen abgemagert, es sprach nicht mehr und verweigerte jede Nahrung.
Du hast einen Tag, einen zweiten und dann noch einen mit ihm verbracht, ohne dass er dir auch nur einen Blick geschenkt hätte, aber du hast nicht aufgegeben, jeden Morgen bist du zu ihm gegangen, bis du ihn aus seinem
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