Im Blutkreis - Roman
zeigte nun ein anderes Gesicht. Unter dem schwarzen, regenschweren Himmel nahmen die Bodenreliefs eine dunklere Färbung an, die Erde war jetzt blutrot, und die Luft, anfangs schwül und drückend, wurde immer frischer und kühler, je weiter sie sich von der Stadt entfernten. Die kurvige Straße vor ihnen, die von den Regengüssen überflutet wurde, führte zwischen sanften, grünen Hügeln hindurch, an die sich Maniokfelder, Bananenpflanzungen und überbevölkerte Dörfer klammerten. Sie begegneten Konvois von Geländewagen mit den Initialen UN der Vereinten Nationen und Transportern, die in einem Höllentempo fuhren und auf deren Windschutzscheiben zu lesen war: »Jesus ist groß.« Das häufigste Transportmittel jedoch war das Fahrrad, Hunderte von Rädern, die
ihre Besitzer, wahre Gleichgewichtskünstler, gegen alle Gesetze der Schwerkraft mit Bergen von Bananen beladen hatten. Die anderen gingen zu Fuß. Horden von Männern, Frauen und Kindern waren am Straßenrand und auf den Feldern unterwegs, manche groß und geschmeidig, andere klein und untersetzt, mit Spaten, Macheten, Heugabeln … Beim Anblick ihrer stählernen Werkzeuge musste Nathan unwillkürlich daran denken, dass sie 1994 fast eine Million Landsleute getötet hatten.
Gegen dreizehn Uhr kamen sie in die Grenzstadt Gisenyi. Nathan bat den Fahrer, an der Tankstelle zu halten, wo, wie der Direktor des Hotels ihm gesagt hatte, der Abgesandte auf ihn warten sollte. Er stieg aus dem Wagen und fragte den ersten Angestellten, der ihm begegnete, ob ein gewisser Billy da sei. Zu seiner großen Überraschung deutete der Mann mit dem Finger auf eine Gestalt, die auf einem Haufen Räder kauerte. Billy war tatsächlich gekommen, und mehr noch, der junge Mann hatte die nötigen Formalitäten für Nathans Einreise in das kongolesische Hoheitsgebiet erledigt. Nathan forderte ihn auf, mit ihm in den Wagen zu steigen, und dann fuhren sie weiter. Knapp eine Stunde später tauchte Goma vor ihnen im Dunst auf.
28
Verwurzelt am Ufer des Kiwusees, schien die Stadt sich nach und nach ausgebreitet und sich dabei wie eine aus der pflanzlichen Finsternis aufgetauchte gefräßige Pflanze in die Erde der umliegenden Hügel gefressen zu haben. Hupkonzerte, chaotische Feldwege, Betonklötze oder Baracken mit Wellblechdächern, eine ganz normale afrikanische Stadt. Bis auf die Kleinigkeit, dass hier die Erde schwarz wie die Nacht und die Luft erfüllt von schweren Düften war und von Millionen winziger
Mücken zu wimmeln schien. Als Nathan sein Gesicht den Bergen zuwandte, erblickte er die dunkle und majestätische Gestalt, die sich in der Ferne abzeichnete.
Die Millionen von Flocken waren keine Insekten, sondern die Aschewolken, die der riesige Vulkan Nyira Gonga ausstieß.
Als Nathan vor dem Starlight ankam, einem Gebäude mit grünweißer Fassade, umgeben von einem üppig blühenden Garten, in dem kleine Bungalows standen, bezahlte er die Fahrt und betrat die Hotelhalle. An der Rezeption wechselte er hundert Dollar in kongolesische Francs, die lokale Währung; dann ließ er sich auf sein Zimmer führen, das im linken Flügel des Gebäudes lag. Es war ein einfacher, sauberer Raum mit einem Schreibtisch und einem Doppelbett sowie einer kleinen Terrasse, von der aus man einen freien Blick auf den Kiwusee hatte. Er nahm eine Dusche, zog sich um und konzentrierte sich auf seine Nachforschungen.
Er musste mit jedem reden, der ihm Auskünfte über das Camp von Katalé geben konnte, und so viele Informationen wie möglich und unterschiedliche Meinungen sammeln, um sich ein objektives Bild von der Situation machen zu können.
Die Ereignisse lagen acht Jahre zurück, aber einige Nicht-Regierungsorganisationen waren noch in der Stadt tätig, und manche ihrer Mitarbeiter hatten vielleicht an der Rettungsaktion während des Exodus der Hutu teilgenommen. Die französischen und belgischen Emigranten konnten ihm möglicherweise ebenfalls weiterhelfen. Aber er brauchte ein wasserdichtes Alibi, um sich zwischen diesen unterschiedlichen Gemeinschaften bewegen zu können, ohne das wirkliche Ziel seiner Erkundigungen preisgeben zu müssen. Und er hatte da bereits eine Idee.
Im Telefonbuch fand er die Adresse des örtlichen Büros der Weltgesundheitsorganisation. Dorthin wollte er sich als Erstes wenden.
Der Sitz der WHO hatte seine Räume im Erdgeschoss der kanadischen Zivilbasis, in der Nähe des luxuriösen Karibuhotels. Zu Fuß waren es zwanzig Minuten bis dorthin, die einzige
Weitere Kostenlose Bücher