Im Blutkreis - Roman
morgen ins Camp fahren. Kann ich mit Ihrer Unterstützung rechnen?«
»Tun Sie, was Sie nicht lassen können. Ich habe jetzt zu tun, guten Abend«, zischte der alte Mann und ging zum Ausgang.
Nathan fragte sich, ob der Missionar nicht einfach nur verrückt war, aber der verächtliche Blick und der mühselige Gang sprachen Bände über sein von Verbitterung und zunehmender Gebrechlichkeit zerstörtes Leben.
Nathan änderte den Ton: »Ich habe Sie etwas gefragt!«
»Sie können in der Medikamentenausgabe schlafen, am Ende des Dorfs, die Kinder werden Ihnen den Weg zeigen. Was Ihre Recherchen betrifft, ich bin Doktor Willemse noch ein paar Gefallen schuldig. Jemand wird Sie morgen früh mit dem Wagen abholen, Benzin und Fahrer müssen Sie bezahlen. Seien Sie um sechs Uhr bereit.«
30
Nathan erwachte kurz vor Sonnenaufgang.
Nachdem er sich unter dem dünnen Wasserstrahl gewaschen hatte, der aus dem Rohr im Badezimmer tröpfelte, zog er eine Leinenhose, ein T-Shirt und ein Paar Wanderschuhe an und packte seinen Rucksack: Fotoapparat, Taschenlampe, Bargeld, Notizheft und sein Dolch. Er verriegelte die Tür des Schlafzimmers und verließ die Medikamentenausgabe.
Alles war blau. Ein so helles Blau, dass Erde und Himmel wie auf einem zarten Aquarell eins zu werden schienen. Nur die dunklen Konturen der Natur, die von den ersten Schreien der Affen und Vögel erzitterte, waren durch die Dunstschleier zu erkennen. Nathan atmete die Luft, die bereits schwül war, und machte eine Runde durch das Dorf. Keine Bewegung. Kein Geräusch. Alle schliefen. Er ging über die weiche Erde zwischen den reglosen Pfützen und kam zu dem Felsvorsprung, der das Tal überragte.
Am Abend zuvor war er nach seinem Gespräch mit dem Priester in sein Zimmer gegangen, einen winzigen Raum, in dem ein Feldbett und eine Emailschüssel standen. Die Kinder, die sich beim Warten auf ihn abgewechselt zu haben schienen, um ihn ja nicht zu verpassen, hatten ihn anschließend zu einer kleinen Bude am Dorfeingang geführt, wo er Ziegenspieße, Maniokbrei und gebratene Bananen in reichlich Sauce mit höllisch scharfem Piment gegessen hatte. Die Bewohner von Kibumba waren lächelnd einer nach dem anderen zu ihm gekommen, um sich nach dem Grund seines Besuchs zu erkundigen oder um ihn einfach nur zu betrachten. Gegen neun hatte Nathan seinen Gastgebern todmüde gedankt und sich verabschiedet. Die Nacht war unruhig gewesen. Das Gefühl, dass etwas um ihn herumschlich, hatte ihn zweimal schweißgebadet aus dem Schlaf schrecken lassen. Er hatte seine Kerze angezündet, aber es war niemand im Zimmer gewesen. Wahrscheinlich war die abendliche Predigt nicht ganz unschuldig an seiner Verwirrung – die Gespenster des Missionars geisterten durch seine Nacht.
Pater Spriet hatte sich seit ihrem Gespräch in der Kirche nicht mehr blicken lassen. Er war ein armer Irrer, aber in einem hatte er Recht: Die Aussichten, dass die Flüchtlinge von Katalé sich an irgendetwas erinnerten, waren sehr gering. Das Bild der verstümmelten Leichen in Spitzbergen schob sich wieder vor sein inneres Auge… Fast zehn Jahre trennten die Expedition
der Pole Explorer von dem Exodus der Hutu, und auch wenn er bei diesen neuen Nachforschungen noch immer im Dunkeln tappte, spürte er doch, dass ein unsichtbares, aber dünnes Band diese beiden Geheimnisse miteinander verband.
Eine Stimme murmelte: »Salut …«
Nathan drehte sich um. Ein junger Mann mit mandelförmigen Augen stand mit verschränkten Händen im Schatten eines Baums mit feuerroten Blüten.
»Was willst du?«, fragte Nathan.
»Pater Denis hat mich über Sprechfunk angerufen und gebeten, dich zu fahren …«
Nathan beobachtete sein Gegenüber einen Augenblick. Er war ein schüchterner, kaum achtzehnjähriger Bursche, groß und dünn; seine gebeugte Gestalt erinnerte an einen merkwürdigen Stelzvogel. Er hatte feine Gesichtszüge, und die Haut, die über den Wangenknochen spannte, wirkte ebenso blau wie der anbrechende Tag. Er trug ein weißes, tadellos gebügeltes Hemd, eine schwarze Hose und Sandalen.
»Wie heißt du?«
»Juma.«
»Guten Tag, Juma. Ich bin Nathan.«
»Du willst nach Katalé, willst du mit den Leuten sprechen?«
»Ja.«
»Du musst das Benzin bezahlen.«
»Ich weiß, der Pater hat es mir gesagt.«
»Du musst auch den Fahrer bezahlen.«
»Mach dir keine Sorgen. Fahren wir.«
Der rotweiße Jeep, in dem sie Platz genommen hatten, fuhr langsam über die lehmige Piste. Laut Doktor Willemse lag
Weitere Kostenlose Bücher