Im Blutkreis - Roman
die ersten Regentropfen auf das Blechdach schlugen, stand Pater Spriet auf und ging zum Altar. Er betrachtete einen Augenblick das riesige Kruzifix, das in der Dunkelheit aufragte, dann drehte er sich um.
»Wissen Sie, wie viele Geschichten von Teufeln, von Dämonen oder von Geistern man mir jedes Jahr berichtet? Afrika ist ein Land der Legenden, und seine Einwohner sind durchdrungen von allen Arten von Aberglauben, gegen die ich täglich zu kämpfen habe.«
Nathan konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, während er sich Pater Spriet einen Augenblick lang als einen schmächtigen heiligen Michael vorstellte, der den Drachen tötete.
»Leute sind verschwunden, und ich glaube nicht, dass die Person, die mir davon berichtet hat, für diese Kultur des Übernatürlichen anfällig ist.«
»Na schön, lassen wir diese Erwägungen einmal beiseite, aber erlauben Sie mir, dass ich Ihnen meinerseits eine Frage stelle. Haben Sie auch nur die Spur einer Vorstellung, was 1994 hier passiert ist? Wissen Sie überhaupt, was diese Menschen durchgemacht haben, Überlebende oder Mörder, Schuldige wie Unschuldige, die am Abend des 13. Juli wie ein roter Fluss die Region überflutet haben, Leib und Seele besudelt vom Blut ihrer Brüder, um auf der Lava unserer Vulkane zu weinen und zu sterben? Haben Sie einmal die Augen geschlossen und sich die Gesichter, die verlorenen Blicke vorgestellt, in denen die Dämonen, der Tod und der Hass tanzen?«
Er schwieg einen Augenblick. Der Regen hatte an Heftigkeit zugenommen.
»Ich, junger Mann, ich war da, ich habe das Grauen hinter den Hügeln hervorkommen sehen, die man einst das Paradies nannte. Innerhalb weniger Tage ist die Region in ein unbeschreibliches Chaos gestürzt worden, tausendmal schlimmer als das, in dem wir heute leben. Hier wie dort wurde gemordet. Todeskämpfe, Plünderungen, Vergewaltigungen, Morde waren an der Tagesordnung. Und glauben Sie, dass es damit sein Bewenden hatte? Nein, Monsieur Falh, knapp eine Woche später ist die Cholera über sie gekommen, wie eine Geißel, die geradewegs aus dem Alten Testament aufgetaucht ist. Sie wurden
dahingerafft, die einen wie die andern, vor unseren hilflosen Blicken, und nährten die Erde mit ihren armseligen Körpern. Was ich Ihnen sagen will, ist, dass wir hier mit dem Tod leben. Selbst in Zeiten relativen Friedens ist er da und lauert im Dunkeln, bereit, einen jeden Augenblick zu holen. Ein Drittel der Bevölkerung ist an Aids erkrankt, die Rebellen töten täglich Dutzende von Menschen, die Grausamsten unter ihnen zwingen die Twas, eine pygmiforme Minderheit, ihre eigenen Kinder zu töten, zu zerstückeln und zu essen, ganz zu schweigen von den Tieren, Krokodile, Schlangen, Flusspferde … Gehen Sie einmal an unseren Flüssen spazieren und Sie werden den Tod in den ausgerissenen Armen, den aufgeblähten Bäuchen, den leeren Augen der Leichen sehen, die sie mit sich führen. Die Kolonisatoren-Länder sind vermutlich auch nicht ganz unschuldig daran, das will ich gar nicht leugnen, aber hier befinden Sie sich vor allem in einer Welt von Wilden, einer Welt, in der das westliche Denken keinen Platz hat. Wenn der Sensenmann wütet, dann hinterlässt er keine Spuren, die Erde verschlingt ihn, verschluckt ihn und die Gewissen auch. Die Fälle spurlosen Verschwindens, von denen Sie sprechen, junger Mann, sind ein Tropfen in dem unermesslichen Grauen, das diese Gebiete, in denen Gott tot ist, spaltet und weiterhin spalten wird. Sie können mir glauben, wenn ich Ihnen sage, dass Sie Ihre Zeit verschwenden und dass die armen Teufel des Camps von Katalé Ihnen nicht helfen werden …«
Die Gespenster spukten offensichtlich noch immer im Geist des alten Mannes herum, aber Nathan nahm die kolonialistische und rassistische Gesinnung dieser traurigen Gestalt hin. Sein Wahn interessierte ihn nicht. Es war klar, dass Spriet ihm keine Hilfe sein würde.
Als der Geistliche zu einer neuen Schmährede ansetzen wollte, schnitt Nathan ihm das Wort ab.
»Wenn diese Personen wirklich verschwunden sind, wenn Verbrechen begangen worden sind, und ich habe gute Gründe,
das zu glauben, dann müssen die Schuldigen gefunden werden. Ich räume ein, dass die Erfahrungen, die Sie gemacht haben, zu einem gewissen Fatalismus führen können, aber ich glaube nicht, dass man dem Tod jemals mit Gleichgültigkeit begegnen kann. Ich habe Tausende von Kilometern zurückgelegt, um zu verstehen, was passiert ist, und ich kann jetzt unmöglich aufgeben. Ich werde
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