Im Blutkreis - Roman
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Und da hatte er eine Idee: Das Datum des Untergangs der Dresden könnte einen Hinweis liefern.
»Eine letzte Frage, Professor: Was sagt Ihnen das Jahr 1918?«
Derenne verzog ärgerlich das Gesicht.
»Ich bin wirklich geduldig gewesen, aber jetzt gehen Sie zu weit, Monsieur Falh …«
Nathan ließ ihn nicht aussprechen: »Antworten Sie mir, Professor, es ist sehr wichtig, Sie werden bald verstehen, warum …«
Derenne blickte ihn kühl und immer zweifelnder an.
Nathan wiederholte: »Das Jahr 1918, Professor?«
»Ich sehe da wirklich keinen Zusammenhang«, seufzte der Virologe. »Na gut … Fragen Sie das den Menschen oder den Wissenschaftler?«
»Ich weiß nicht … beide?«
»Schön, also sagen wir es so: Für den Menschen bedeutet das Jahr 1918 das Ende des Ersten Weltkriegs, aber für einen Virologen hat dieses Jahr eine ganze andere Bedeutung …«
Nathan schluckte. Eiskalte Nadeln stachen in seinen Nacken.
»Was wollen Sie damit sagen?«
»1918 ist vor allem das Jahr der furchtbaren Pandemie der Spanischen Grippe. Eine Geißel, die zwischen dreißig und vierzig Millionen Menschen in der ganzen Welt getötet hat, fünfmal so viel wie der Krieg selbst …«
Diese Information traf Nathan, als würde ihm ein Fläschchen Vitriol ins Gesicht geschüttet. Daran hatte er nicht gedacht.
Die Soldaten im Eis … Die Wahrheit nahm plötzlich Gestalt an.
»Wissen Sie etwas über Versuche, dieses Virus zurückzugewinnen?«, fragte er mit tonloser Stimme.
»Solche Versuche hat es in der Tat gegeben…« Derenne seufzte erneut, anscheinend ohne bemerkt zu haben, dass Nathans Ton sich geändert hatte. »Worauf wollen Sie hinaus?«
»Professor … bitte. Dieser Punkt kann von entscheidender Bedeutung sein.«
»1968 hat ein amerikanisches Team versucht, den Stamm zurückzugewinnen, indem sie die Gräber von Inuit schändeten, die dem Virus 1919 zum Opfer gefallen waren. Und in jüngerer Zeit hat es weitere Versuche gegeben…«
»Aus welchen Gründen hat man versucht, diesen Stamm wiederzufinden?«, unterbrach Nathan ihn.
»Mit Hilfe einer unversehrten Virusprobe hätte man verstehen können, wie es funktioniert, und das hätte gewiss erlaubt, einen Impfstoff zu entwickeln und damit einer neuen Pandemie vorzubeugen. Im Gegensatz zur herrschenden Meinung gehören Grippeviren zu den gefährlichsten Krankheitserregern, die die Menschheit jemals gekannt hat, zusammen mit der Pest und heute dem HIV-Virus. Wenn ein solcher Erreger wieder auftauchen würde, glauben Sie mir, das wäre eine wahre Geißel für die Menschheit.«
»Und was war das Ergebnis dieser Expeditionen?«
»Sie scheiterten. Obwohl die Körper im Hohen Norden bestattet worden waren, wo die Erde dauerhaft gefroren ist, waren sie nicht tief genug beerdigt worden, und die Erwärmung in den darauf folgenden Frühjahren hatte jede Spur der Grippe vernichtet. Damit sie in einwandfreiem Zustand erhalten bleiben, hätten die Leichen in einem gefrorenen Boden liegen müssen.«
»In reinem Eis?«
»Zum Beispiel …«
Nathan hatte sein Ziel fast erreicht, das spürte er.
»Wenn Sie selbst einen solchen Erreger zurückgewinnen wollten, wie würden Sie vorgehen?«
»An einer Leiche, meinen Sie?«
»Ja.«
»Ich würde Teile des Gehirns und der Lungen entnehmen, denn dort findet man die größte Konzentration des Virus.«
Diese Information tönte wie eine Totenglocke in Nathans Kopf. Die Teile des Puzzles fügten sich ineinander…
Er hatte es bereits begriffen, als der Wissenschaftler die Belagerung von Kaffa erwähnt hatte… Der Mensch hatte die Existenz der Krankheitserreger im siebzehnten Jahrhundert zwar noch nicht wissenschaftlich entdeckt, aber die Mörder aus dem Manuskript hatten sie dennoch empirisch aufgespürt. Sie hatten erkannt, dass eine Krankheit, die in den Lungen und dem Gehirn der Kranken lebte, verbreitet werden konnte. So wie die Mitglieder der Mannschaft der Pole Explorer sich der im Wrack gefangenen Leichen bemächtigt hatten, hatten die Monster der Vergangenheit es mit dem Afrikaner gemacht, denn er war der Grippe oder einer ähnlichen Krankheit zum Opfer gefallen, was Elias nicht wissen konnte.
Die Viren waren der Schlüssel zu allem.
Als Nathan aufblickte, erkannte er an dem finsteren Blick, der auf ihm ruhte, dass es nun an ihm war, seine Informationen preiszugeben.
36
»Das ist ja furchtbar …«, murmelte Derenne.
Der Himmel hatte sich verfinstert, und die dunklen Schatten der Wolken glitten wie Wellen
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