Im Blutkreis - Roman
über das bleiche Gesicht des Arztes. Er lockerte seine Krawatte und lehnte sich in seinem Sessel zurück, als wollte er zu dem grauenhaften Bericht, den er gerade gehört hatte, auf Distanz gehen.
Nathan hatte ihm alles erzählt, vom Elias-Manuskript, von seiner Reise nach Spitzbergen, von den schrecklichen Entdeckungen im ehemaligen Flüchtlingscamp, und ihm seine Fotos gezeigt, sich allerdings bewusst auf die Details beschränkt, die unmittelbar mit den Viren zu tun hatten.
»Haben diese Männer«, fuhr er nach einer Pause fort, »Ihrer Meinung nach eine Chance, den Grippestamm zu isolieren?«
Der Virologe spielte nervös mit einem Füller, der auf seinem Schreibtisch lag. Schließlich entschied er sich für eine weitere Zigarette.
»Wenn, wie Sie glauben, die Leichen achtzig Jahre hermetisch abgeschlossen im Eis gelegen haben, würde ich sagen, ja, die Erfolgsaussichten sind sehr groß. Aber es müssen noch zahlreiche weitere Fakten berücksichtigt werden. Man muss die Proben in einer Kühlbox bei minus achtzig Grad Celsius aufbewahren und sie in ein Labor bringen. Sie können sich denken, dass diese Art von Material nicht unbemerkt bleiben wird … Und einmal angenommen, diese Operation ist erfolgreich, dann muss das Virus anschließend behandelt werden, was ein qualifiziertes Personal und die entsprechende Technologie voraussetzt … Haben Sie eine Ahnung, wer diese Männer sind? Stehen sie im Dienst einer Regierung? Einer Untergrundorganisation?«
»Ich neige eher zu Letzterem, aber ein paar Details passen nicht so recht zu dieser Hypothese.«
Derenne runzelte die Stirn: »Was meinen Sie?«
»Ich weiß nicht… Die Tatsache, dass sie seit mehr als drei Jahrhunderten existieren, spricht definitiv gegen die Annahme, dass sie irgendeinem Staat oder einer politischen Gruppierung angehören … Nein, die wahrscheinlichste These ist die einer Geheimorganisation, die Terrorakte begeht … Und zugleich scheinen alle Hinweise, über die ich verfüge, auf eine noch beunruhigendere Tatsache hinzudeuten. Die meisten bewaffneten Untergrundgruppen zielen mit extremer Gewalt auf die Bevölkerung, weniger, um zu töten, sondern wegen der psychologischen Auswirkungen, die diese Angriffe haben. Im vorliegenden Fall bleiben die Gifte und die Viren unbemerkt … Das passt irgendwie nicht …«
»Das stimmt, die klassischen Terroristen neigen eher dazu,
selbst gebastelte Bomben oder Substanzen wie Kampfgas oder Anthrax zu benutzen, die viel leichter und billiger herzustellen sind.«
Nach kurzem Schweigen erklärte Derenne: »Ich habe da vielleicht eine Hypothese …«
»Woran denken Sie?«
»Na ja, also eine Schimäre, in diesem Fall ein genetisch manipulierter Erreger, kann so zusammengebaut werden, dass man glaubt, es mit einem natürlich entstandenen mutierten Virus zu tun zu haben.«
»Wollen Sie damit sagen, dass man nicht wissen kann, ob man es mit einem manipulierten Virus zu tun hat?«
»Es gibt verschiedene Analysemethoden: Die erste ist die mit Hilfe von Antigen- oder Antikörper-Reaktionen, die ich vorhin erwähnt hatte…«
»Und die zweite?«, drängte Nathan.
»Das ist die Molekularanalyse. Wenn es gelingt, das Virus physisch zu isolieren und seinen genetischen Code zu entschlüsseln, kann man entweder Veränderungen im Vergleich zu dem bekannten Virus feststellen oder erkennen, dass man es mit einem ganz neuen Virus zu tun hat. Und je zurückhaltender und subtiler manipuliert worden ist, umso schwieriger bis schlicht unmöglich ist es, im einen wie im anderen Fall zu sagen, ob es sich um eine natürliche oder in einem Labor erzeugte Mutation oder, wenn das Virus sich von allen bekannten unterscheidet, um eine neue Virenart handelt …«
Nathan dachte einen Augenblick nach.
Die Theorie des Virologen war in sich schlüssig. Die Männer des Blutkreises töteten anonym, und dadurch hatten sie durch die Jahrhunderte wandern können, ohne demaskiert zu werden. Bereits Roch und seine Komplizen hatten die Grenzen des Giftes erkannt. Für einen Normalsterblichen mochte es schwierig sein, Tod durch Gift von einer Krankheit zu unterscheiden, aber ein Arzt oder Apotheker mit geübtem Blick konnte das
Gift aus den Symptomen eines Kranken oder den Eingeweiden einer Leiche erkennen. Sie mussten daher eine noch geheimnisvollere Waffe finden. Auch wenn die noch geringen wissenschaftlichen Kenntnisse der damaligen Zeit ausschlossen, dass man, und sei es nur empirisch, einen solchen Erreger herstellen konnte,
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