Im Bureau: Erzählungen (insel taschenbuch) (German Edition)
Tag auf den anderen die Arbeit verweigert und beschließt, »es nicht zu tun«, wird eine Figur geprägt, deren grotesk-trauriges Geschick heute als visionäre Kritik am verwalteten Dasein gilt. Ein allgemeines Interesse erregt der Berufsstand erst in dem Moment, als in der Öffentlichkeit das ›Heer der Angestellten‹ zu einem Thema wird. Während die Soziologie den Nachweis der objektiven Notwendigkeit der Verwaltung für den modernen Staat führt und sie als legale Herrschaftsform rechtfertigt (Max Weber), entfaltet die Publizistik, Literatur und Karikatur ein buntes Spektrum der Bürokratie-Kritik und der Angestellten-Satire.
Der ans Absurde grenzenden Dimension des Verwaltungsapparats ein Denkmal gesetzt haben Franz Kafkas Romane. Zuvor waren nebst literarischen Annäherungen auch sozialwissenschaftliche Studien erschienen, die – mit ihren Mitteln – in die gleiche Richtung wiesen wie Der Prozeß (1925) und Das Schloss (1926). Der galizische Verwaltungsbeamte Josef Olszewski etwa postuliert 1904 eine Analogie zwischen den Kontrollmechanismen der Verwaltung und dem Prinzip der doppelten Buchhaltung: »Ohne den Wert dieser Errungenschaft gehörig begriffen zu haben, hat die Bureaukratie das Prinzip der gegenseitigen Kontrolle umgekehrt und brachte es dazu, dass die Kontrolle die Kontrolle kontrolliert, und diese eine weitere Oberkontrolle erlebt, so dass eigentlich eine endlose Kette entsteht, deren letztes Glied schon kein Bewusstsein seines Zweckes hat, für welchen es funktioniert, es versieht deshalb seine Tätigkeit ohne jedweden Nutzen für das Gesamtwesen .«
Auch der an Kafkas Promotion beteiligte Bruder von Max Weber, der Jurist Alfred Weber, erkennt in der bürokratischen Dynamik »ein ungeheures Problem«. Ein riesenhafter »Apparat« und ein »Gift der Schematisierung«, schreibt er in Der Beamte , würden die »früher frei und natürlich gewachsenen Teile« der Existenz erfassen und vom Leben Besitz ergreifen. Die Verwaltung geriere sich in den modernen Gesellschaften »wie ein Staat im Staat«. Webers Kritik zielt auch auf das Berufsethos, das insbesondere die Beamten entwickelten: »Man sucht sie mit allen Mitteln, die es gibt, an denApparat und den Beruf zu ketten, so, daß sie in ihm aufgehn. […] Man bietet ihnen ›Achtung‹ und soziale Stellung, wenn man Staat und Kommune ist, hübsche Titel; – verlangt dafür aber zusätzlich zur Arbeitskraft auch noch den Menschen selber – seine ›Seele‹.«
Neben der Kritik, die oft weniger das Phänomen an sich als vielmehr dessen Auswüchse anprangert, manifestiert sich auch ein Interesse an der Herkunft der Verwaltung. Zu umfassenden Darstellungen wie Albert Lotz' Geschichte des deutschen Beamtentums von 1909 treten auch Dokumentationen bedeutender Etappen wie etwa 1908 die Erstpublikation der Memoiren des Barons Fain, der 1806 bis 1815 als Sekretär im Dienst Napoleons gestanden hatte. Fains Erinnerungen bieten einen spektakulären Einblick in das rigorose Regiment der kaiserlichen Verwaltung und offenbaren, daß die entscheidende Machtbasis der napoleonischen Autorität weniger auf dem Charisma des Herrschers als vielmehr auf der Systematik und Effizienz seines ›Büros‹ beruht.
Daß die ›Bürokratisierung‹ von Politik, Verwaltung und Ökonomie alles andere als eine Chimäre war, belegt auch die entstehende Zulieferindustrie wie die 1900 – in Walsers Heimatstadt – gegründete Schreibbücher- und Papierwarenfabrik Biel . Verkaufsschlager der Biella , wie das Unternehmen später heißt, ist der ›Bundesordner‹, jener mit Schweizerkreuz und Leinenrücken versehene, grauschwarz marmorierte Lochordner, der auf der bahnbrechenden Hebelmechanik von Ludwig Leitz basiert und schweizweit zum Inbegriff bürokratischer Ordnung avanciert. Papier- und Schreibwaren waren Walser von frühester Kindheit her vertraut, denn zum Sortiment des Haushaltswarengeschäfts, das sein Vater 1864 gründet, gehörten auch Papeterieartikel.
Die öffentlichen Auseinandersetzungen über die wachsende Verwaltung und Bürokratisierung finden in Tageszeitungen und Witzblättern ebenso ein Forum wie in Parlamenten und an Stammtischen. Für Walser prägend sind jedoch die persönlichen Erfahrungen, die er als kaufmännischer Lehrling und danach in wechselnden Stellungen bei Banken, Transportfirmen, Fabriken, Gewerbebetrieben, Versicherungen und Schreibstuben sammelt. Die 1892 in der Berner Kantonalbank begonnene Karriere als Commis dauert bis ins Jahr 1905,
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