Im Bus ganz hinten
fressen«, machte ich ihm klar. »Nein!«, befahl er. »Du hörst jetzt auf mich!« Ich konnte den Typen nicht ernst nehmen, drehte mich
ganz ruhig um und ignorierte ihn. A ber Tilman platzte der Kragen: Er rannte auf mich zu und versuchte mich mit Gewalt aus dem Zimmer zu
zerren. »Du hast mir zu gehorchen«, sabbelte er, während er wie ein Dreijähriger an meinem T-Shirt zog. Ich lachte, musste aber feststellen,
dass Öko-Tilman noch immer nicht aufgab. Ich spürte, wie sich die Wut in mir regte. Er flüsterte: »Ich sage es A nnika. Und die macht dich
dann fertig. Du bist so ein schrecklicher Junge. Du bist überhaupt nichts wert.« Ich stand noch eine Sekunde regungslos vor ihm – und dann
schlug ich ihm mitten in die Fresse. »A auuuaaa! Hilfeeeee!«, schrie er sofort wie ein Mädchen. Ich sprang auf und schubste den Typen zur
Seite. »Halt einfach dein dummes Maul!«, schrie ich so laut, dass Tilman erstarrte. »Ich zeig dir jetzt mal, wie viel ich wert bin!« Und dann
rannte ich auf den Flur, ballte meine Hände zu Fäusten und zerschlug alles, was mir in den Weg kam: Schränke, Stühle und Tische. Es war, als
ob ich mir von oben dabei zusehen könnte. Meine Hände waren schon komplett offen, das Blut lief an meinen Fingern herunter, aber ich hatte
noch immer nicht genug: Mit voller Kraft zerschmetterte ich jetzt die Bilder an der Wand. Das splitternde Glas zerschnitt meine Hände noch
mehr. Das Blut hinterließ Schlieren an der Wand und tropfte auf den Boden. Völlig außer A tem drehte ich mich zu Tilman um. »Siehst du,
jetzt hast du deinen schrecklichen Jungen.«
Er stürmte weinend an mir vorbei. »Ich rufe die Polizei.« Und das tat er tatsächlich. Nicht mal eine Viertelstunde später, als ich gerade allein in
meinem Zimmer saß und damit beschäftigt war, meine wie Feuer brennenden Hände zu verbinden, standen schon drei Beamte vor mir. »Sie
bekommen eine A nzeige wegen Körperverletzung und Sachbeschädigung«, erklärten sie mir. Und fünf Minuten später tauchten auch Dietlind
und A nnika auf. »Das war’s. Du fliegst aus dem Heim. Pack deine Sachen und geh.« »Und wo soll ich jetzt hin?«, fragte ich. Dietlind
verschwand ohne eine A ntwort in Richtung Telefon. Kurz darauf kam sie wieder. »Du kannst erst mal in eine Kriseneinrichtung.«
Na, das klang ja toll! Ich packte meine Sachen und fragte mich, was mich jetzt wohl wieder erwarten würde. Mein Leben war ein einziger
Schrotthaufen – selbst mein großartiger Neuanfang war nun offenbar kläglich gescheitert. Solange ich noch in meiner eigenen Haut steckte,
schien in meinem Leben einfach nichts zu gelingen. »Hier ist die Wegbeschreibung. Mach’s gut!« Dietlind drückte mir einen Zettel in die Hand
und verabschiedete sich ohne Händedruck. Ich verließ das Gebäude und beendete damit meine Karriere als Heimkind. Was war ich jetzt? Ich
hatte keine A hnung, wie man mich in Zukunft wohl noch nennen würde …
Endstation Hoffnung
Ein Obdachloser war ich nicht, aber viel besser war meine nächste Station auch nicht. In der Kriseneinrichtung landeten Leute, die gar nichts
mehr hatten und die keiner mehr wollte. »A ch, du bist also Patrick«, sagte der Leiter des Hauses zur Begrüßung und zog seine rechte
A ugenbraue hoch. »Du kannst erst mal hierbleiben. Wir versuchen dich aber so schnell wie möglich an ein betreutes Wohnen zu vermitteln.«
Wow, eine eigene Wohnung? Das klang natürlich geil.
Für den Moment allerdings würde ich es hier aushalten müssen. Von außen sah das Gebäude gar nicht so schlecht aus, es war wie eine kleine
Villa. A ber die Möbel im Inneren mussten vom Sperrmüll zusammengeklaut worden sein, die ganze Einrichtung war übelst abgewrackt. In
meinem Bett hatten vor mir bestimmt schon hundert andere Jugendliche gepennt. Meine Matratze hatte Flecken in allen möglichen Farben und
Formen. Ich wagte zu bezweifeln, dass sie jemals gereinigt worden war.
Die anderen Bewohner der Kriseneinrichtung waren mindestens genauso arm dran wie ich, aber ich wollte mir ihre Geschichten gar nicht erst
anhören. Noch mehr Elend konnte ich gerade nicht ertragen. Für mich war die Einrichtung nur ein Platz zum Schlafen. Übergangsweise. Und
nachts schlich ich mich sowieso weiterhin raus, um zu sprühen.
Je länger ich in dieser seltsamen Zwischenstation untergebracht war, desto mehr sehnte ich mich wieder nach meiner Familie. Seit dem Vorfall
mit dem Messer vor drei Monaten hatten meine Mutter und ich
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