Im Bus ganz hinten
Ich bestaunte die Arbeiten der anderen Sprüher, fühlte mich wieder zu Hause und war mir sicher: »Ich geh nie mehr zur Schule.«
Einige Monate später hatten die Heimleitung und sämtliche Direktoren dann von Patrick Losensky dermaßen die Schnauze voll, dass sie mir aus lauter Verzweiflung den Hauptschulabschluss schenkten.
Maler und Lackierer
Ganz wollte mich das Heim allerdings doch nicht aufgeben: Sie verlangten, dass ich wenigstens ein Praktikum machte. Im Haus hatten sie eine Küche sowie eine Schlosser-, Tischler- und Malerwerkstatt. Ich konnte mir aussuchen, wohin ich gehen wollte, und entschied mich für Letztere. So kam ich wenigstens gratis an Streichfarbe! Gelegentlich musste ich meine Wände ja auch vorgrundieren, um später die großen Bilder draufsprühen zu können. Außerdem lagen Malen und Sprühen ja ziemlich nah beieinander. Dass diese Entscheidung eine der wichtigsten in meinem Leben sein würde, war mir zu diesem Zeitpunkt natürlich völlig unklar. Aber eines merkte ich sofort: Das Praktikum machte mir viel mehr Spaß als die Schule. Die Kollegen waren cool, und mein Chef, Meister Amrouche, war streng – aber gut! Er hämmerte seinen Azubis Disziplin ein, hatte dabei aber immer ein offenes Ohr für alle. Ich mochte ihn, und ich hatte Respekt vor ihm, denn wenn er schrie, hörte das gleich ganz Berlin, so laut war er. Er war der erste Mensch auf der Welt, bei dem ich die Fresse hielt. Es war wie ein Wunder.
Gleich am ersten Tag schickte mich der Chef auf eine Baustelle. Wir fuhren in die Bonzengegend nach Wannsee, wo Heimkinder wie ich den Reichen die Holzzäune strichen.
»Beschaffungsprogramm für billige Arbeitskräfte« könnte man das auch nennen. Ein Lehrling fiel mir vor Ort gleich auf. Er saß im Schneidersitz auf der Bordsteinkante, hatte einen Bart und längere, pechschwarze Locken. Er trug Adidas-Sneaker, und ich nahm sofort an, dass er genauso drauf war wie ich. Ein Hip-Hopper! »Hey, ich bin Patrick«, stellte ich mich vor. Er guckte kurz hoch.
»Yo, ich bin Anis.« Dann blickte er wieder runter und drückte auf den Tasten seines Minidisc-Players rum, mit dem er gerade Rap auf voller Lautstärke hörte. Anis steckte den ersten Stöpsel in sein Ohr und hielt den zweiten fragend in der Hand.
»Ich glaube, du sollst mir erklären, was ich hier machen soll«, sagte ich.
»Ach so«, seufzte er. Er stand langsam auf, gab mir die Hand und zeigte mir, was ich zu tun hatte.
Von diesem Zeitpunkt an standen wir jeden Morgen gemeinsam auf einer Baustelle. Ich erst mal als Praktikant – er als Lehrling im zweiten Jahr. Er war ein guter Junge. Wir verstanden uns von Tag zu Tag besser. Irgendwann erzählte er mir, dass er vom Richter wegen Drogendealerei dazu verknackt worden war, diese Ausbildung zu machen.
»Ich hatte die Wahl: Entweder gehe ich in den Knast, oder ich mache das hier.« Die Malerwerkstatt war eine Art karitative Einrichtung. Jugendliche, die nirgendwo anders eine Chance auf eine Ausbildung bekamen, wurden hier aufgenommen. Als mir Meister Amrouche ein paar Wochen später eine Lehre anbot, sagte ich sofort zu. Woanders hätte mich sowieso kein Schwein genommen. Ich war jetzt 17, und die Ausbildung war – neben meiner Karriere als Sprüher – der erste Hoffnungsschimmer in meinem Leben. Ein kleiner wenigstens. Ich freute mich sogar jeden Morgen auf die Arbeit, zumal ich in Anis einen guten Freund gefunden hatte. Wir hingen die ganze Zeit zusammen ab, verarschten zum Spaß die Gesellen und hatten einfach eine coole Zeit.
Wenn wir mal keinen Bock auf Arbeit hatten, versteckten wir uns irgendwo und chillten ein bisschen. Auf seinem Minidisc-Player spielte er mir ständig neue Songs vor. Einmal grinste er besonders stolz, als er mir die Kopfhörer in die Hand drückte: »Hör mal!« Ich drückte auf Play und erkannte sofort seine Stimme.
»Wow, bist du das?«, fragte ich überrascht.
»Yo. Ich rappe auch. Das sind meine eigenen Songs.« Krass! Anis war definitiv ein Typ, den ich feiern konnte.
Wald, Wildschweine und Wunden
Ich wollte immer mehr coole Sprüheraktionen starten. Da kam es mir ganz gelegen, dass Zwek einen Kumpel hatte, der schon viele Jahre in der Szene war. Er nannte sich Dair. Der Typ war bereits über 30 und so ein richtiger Oldscooler. Wir besuchten ihn öfter, um Legenden und Storys über unsere Graffitihelden zu hören. In seinem Haus kiffte Dair den ganzen Tag und malte Bilder, krasse Sachen. Ein echter Künstler.
Er gab uns immer ein paar
Weitere Kostenlose Bücher