Im Bus ganz hinten
Stifte, und dann kritzelten auch wir ein paar Ideen in seine Blackbooks. Auf richtige Action hatte Dair allerdings keinen Bock: Züge oder Wände zu malen war ihm wegen des ganzen Bullenstresses mittlerweile zu anstrengend. Zwek und mir nicht. Wir wollten unbedingt etwas schaffen, wir waren hoch motiviert und hätten Dair wirklich gern dabeigehabt. Schließlich hatte er jahrelange Erfahrung, und wir wollten uns ein bisschen was abgucken.
»Komm schon, Alta. Mach mit. Nur einmal. Es wird voll cool«, versuchte ich ihn deshalb zu überreden. Leider ohne Erfolg: »Ach nee. Das ist mir viel zu stressig, Dicka!« Mann, er war einfach viel zu träge. Das nervte mich total, und deshalb ließ ich schon aus Prinzip nicht locker.
»Bitte, bitte. Nur einmal!«, bettelte ich ihn weiter an und nölte dabei wie ein Schuljunge. Irgendwann gab er schließlich nach. Offensichtlich flüchtete er lieber in der Nacht mit den Farbdosen vor der Polizei, als mich noch weiter ertragen zu müssen.
»Okay, du Nervensäge. Dann komm ich eben mit«, seufzte er und drehte sich zur Beruhigung erst mal einen neuen Joint.
Als Ziel suchten wir ein großes S-Bahn-Depot mitten im Wald von Wannsee aus. Dort standen abends etliche Züge. Weil wir uns in der Gegend alle sehr gut auskannten, hätte es eigentlich ein Kinderspiel werden müssen. Nur leider konnte Zwek an dem geplanten Abend nicht.
Dair wollte die Sache inzwischen aber durchziehen, ich sowieso, und deshalb riefen wir noch seinen Kumpel Quac an. Der kam gern mit und fuhr uns praktischerweise mit dem neuen Mercedes seines Vaters zu der besagten Stelle. Das war natürlich ziemlich lässig. Wenn man nachts zu Fuß mit einem Haufen Dosen in der Hand unterwegs war, dann wurde man schnell gepackt – im Mercedes hingegen waren wir perfekt getarnt. Wir parkten direkt am Waldrand, holten die Sprühdosen aus dem Kofferraum und liefen zu dritt los. Es war richtig dunkel draußen, ich hörte Eulen rufen, Fledermäuse zappelten durch die Luft.
»Wir müssen echt aufpassen«, flüsterte Dair.
»Die Bullen laufen hier mit Nachtsichtgeräten rum. Außerdem könnten die Sprüher aus Potsdam da sein. Und mit denen ist nicht zu spaßen.« Über eine lange Holztreppe liefen wir in den stockdunklen Wald hinein. Von oben konnten wir das Depot schon teilweise überblicken, trotzdem war es noch ein ganzes Stück, bis wir da waren. Das Holz knackte unter unseren Füßen, und ich fühlte mich extrem unwohl. Aber das Adrenalin kickte mich, und ich lief immer weiter, weil ich wusste, dass wir gleich da waren und endlich an den Zug konnten.
Doch dann hörte ich plötzlich ein lautes Grunzen von rechts. Ich zuckte zusammen: Ein dickes Wildschwein stand neben uns und starrte uns an. Ich blickte ihm direkt in die Augen. Noch nie zuvor hatte ich ein so großes Exemplar gesehen. Seine massiven Eckzähne wirkten ziemlich gefährlich. Und es stank nach Wild. Ich bekam Schiss und rannte los, so schnell ich konnte.
»Die Viecher sind gefährlich wie Sau«, rief Dair, als er und Quac mich von links überholten. Wir sprinteten in den Wald hinein, und das Schwein rannte uns hinterher. Schnaubend. Wann immer ich mir über die Schulter sah, wirkten seine Umrisse im Dunkel der Nacht absolut monströs. Wir kämpften uns durch die Büsche und Farne – bis uns plötzlich ein Zaun den Weg versperrte. Er war zwar niedrig, hatte aber scharfe Spitzen. Uns blieb keine Wahl: Hektisch kletterten wir drüber. Ich schaffte es noch auf die andere Seite, aber dann rutschte ich ab. Als ich versuchte, mich mit der Hand festzuhalten, rammte ich mir eine Eisenspitze tief ins Fleisch. Nicht schreien!, dachte ich nur und biss die Zähne zusammen. Du musst jetzt ganz ruhig bleiben, Patrick. Aber der Schmerz war so gut wie unerträglich. Ich presste meine Lippen aufeinander und sah, wie stark es blutete. Ich hatte mich tatsächlich gerade selbst aufgespießt. Das Resultat: ein Loch in meiner Hand.
»Scheiß drauf!«, meinte Dair.
»Das wächst schon wieder zu.« Ich riss die Hand vom Zaun und rannte weiter. Als ich mich noch einmal umdrehte, sah ich, wie das Wildschwein beleidigt hinter dem Zaun stand und uns nachgrunzte.
»Fuck you, altes Schweineohr«, lachte ich in mich hinein.
Und als ich wieder nach vorn guckte, kam ich mir vor wie im Schlaraffenland: Wir waren endlich angekommen – standen jetzt direkt vor den Zügen. Ich war sprachlos. In diesem Moment vergaß ich die Schmerzen in der Hand komplett, ich war einfach nur glücklich.
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