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Im Café der moeglichen Traeume

Im Café der moeglichen Traeume

Titel: Im Café der moeglichen Traeume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paola Calvetti
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herauszufinden, warum ihn eine fallende Feder faszinierte. Seinem Freund Enrico hatte er von diesen Plänen erzählt, dem Einzigen in der Klasse, mit dem er Geschmack und Schwächen teilte: Sah man mal davon ab, dass er selbst Klassenarbeiten in Rekordtempo abgab, während Enrico noch an seinem Bleistift kaute, hatte keiner von ihnen beiden großen Erfolg bei den Mädchen, keiner war besonders ehrgeizig, beide ignorierten sie die WM und liebten Bach, den großen Geometer.
    Bevor die Heizung an jenem Morgen in den Verlauf seines Tages eingriff, hatte Diego sich eingebildet, dass der Schnee ihn mit einem seiner Déjà-vus beehren würde. Die sammelte er wie Porzellanfigürchen, seit ihm im Alter von ungefähr vierzehn aufgefallen war, dass er oft etwas zu erleben schien, das er bereits erlebt hatte. Damals hatte er begonnen, diese Spuren eines Anderswo in seinem Heft mit dem roten Einband zu klassifizieren. Die Idee, in einem gigantischen Karteikasten zu leben, aus welchem der Zufall Ereignisse, Gefühle und Gerüche herausfischte und zwar stets dann, wenn man am wenigsten damit rechnete, gefiel ihm außerordentlich. Natürlich wusste er, dass das Geschenk des Schnees und das erwartete Déjà-vu nicht vom Zufall, sondern von der Temperatur (zwischen - 1 ° und + 1 °) und vom freundlichen Entgegenkommen des Wasserdampfs abhing. »Entgegenkommen« war ein Wort, das ihm ausnehmend gut gefiel. Auch seine Lieblingsworte schrieb er in das Heftchen, das er immer bei sich trug und in dem er schon Tausende gesammelt hatte. Ab und zu fiel sein Blick auf eines, und dann wunderte er sich, dass ein Wort, das vor Jahren offenbar schön in seinen Ohren geklungen hatte, ihn plötzlich nicht mehr tröstete oder amüsierte, als würde dieser besondere Steckbrief darauf hindeuten, dass sich irgendetwas in ihm verändert hatte und er, obwohl er immer am selben Fleck auszuharren schien, in Wirklichkeit auf dem Weg an einen anderen Ort war. Manchmal entdeckte er Wörter auch wieder, wie Bücher, die er als Junge gelesen hatte, ohne etwas zu begreifen. Sie fallen einem in die Finger, wenn man umzieht oder einfach ein Regal umräumt, man liest ein paar Seiten und ist auch schon hoffnungslos verliebt. Die Erinnerungen störten ihn nur, wenn sie ungenau waren, aber an jenem Tag war der Himmel klar, und die Erinnerungen flossen problemlos. Er war mit dem Gedanken an Schnee aufgewacht und hatte den Wetterbericht angeschaltet. Sonst war ihm das Wetter egal, aber dies war der Tag, an dem im Namen seines Bruders Stipendien vergeben wurden.
    Aus seiner Klasse hatte er nur Enrico eingeladen. Der wusste, dass er über die alte Geschichte nicht reden wollte, und er war auch nicht der Typ für unpassende Kommentare. »Wir sehen uns dort«, hatte er gesagt, als wäre es das Normalste der Welt.
    Genau dreizehn Jahre nach dem schrecklichen Unglück, das manche einen unnatürlichen Unfall nannten, würde Diego an fünf junge Musiker, die sich durch Fleiß, Talent und technische Fertigkeiten auszeichneten, ein Stipendium vergeben. Wochenlang hatte er versucht, seine Eltern davon zu überzeugen, dass man das übliche schwülstige Ritual vielleicht überdenken sollte. Vorspiel der Sieger, Überreichung der Urkunden, Ansprache des Jurypräsidenten, ein paar Takte gute Musik, ein Hauch von Rührung, besänftigtes Gewissen, Beifall für die großzügigen Eltern des Verstorbenen und freundliche Grußworte an alle. Der Direktor des Konservatoriums hatte mitgeholfen, die Kommilitonen seines Bruders aufzutreiben, nunmehr Mitglieder verschiedener Orchester und allesamt hocherfreut – falls man ihm Glauben schenken durfte –, der Einladung Folge zu leisten. Diego hätte sich vorstellen können, dass jemand Bach spielt, »Präludium und Fuge in c-Moll« aus dem Wohltemperierten Klavier oder das »Et misericordia« aus dem Magnificat , aber er hatte mit Absicht keine konkreten Wünsche angemeldet. Musiker waren empfindlich, und er war nur ein Laie, der gerne Musik hörte.
    Um das schreckliche Unglück vor der Heuchelei zu bewahren, in die seine Eltern und die Freunde seiner Eltern es einsponnen, hatte er sich das Finale vorbehalten. Vom Band. Für ihn war das Ganze kein Unglück gewesen, sondern eine falsche Linie in der Geometrie des Zufalls. Es war jedoch zu gefährlich, ihnen ihre Sicherheiten zu nehmen. Als es passiert war, war

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