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Im Café der moeglichen Traeume

Im Café der moeglichen Traeume

Titel: Im Café der moeglichen Traeume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paola Calvetti
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ihre Welt stehen geblieben. Die Erde drehte sich nicht mehr, und die Korkenzieherlocken meiner Mutter wurden weiß wie Pusteblumen.
    Wenn du den Schnee fallen siehst, der die Erde bedeckt,
    der sich selber bedeckt, der alles bedeckt, was nicht du bist,
    dann wirst du sehen, wie das Licht
    auf die tönende Luft niedersinkt und sie fortbläst,
    es ist der Fall des Augenblicks in den Augenblick, das Begräbnis
    des Schlafs, die Kehrseite des Winters, das Negativ der Nacht.
    Wie hatten ihm diese Verse gefallen, die er zufällig in einem Buch entdeckt hatte, als es in der Bibliothek auf den Boden gefallen war! Das Buch hatte er Deborah zurückgegeben, aber zuvor hatte er die Verse in sein Heft der Worte geschrieben. An jenem Morgen hätte es funktioniert, als er die Allee zur Kirche betrat und zwei Kindern begegnete. Sie dürften fünf, sechs Jahre alt gewesen sein und hielten sich an der Hand. Der Junge bummelte herum und hielt das Mädchen fest, das so tat, als wollte es weitergehen, aber er streifte ihren Mund in einem schnellen Kuss und strich ihr über die Wange. Vollkommen ernst. Sie, die ein paar Zentimeter größer war und sich in ihrem Mäntelchen mit dem blauen Samtkragen außerordentlich gut gefiel, schien keine Einwände zu haben. »Was gibt’s denn da zu glotzen? Wir üben küssen«, fuhren sie ihn an.
    Fast ein wenig neidisch ging er weiter.
    Er war zu früh dran und hatte alle Zeit der Welt, um die Details noch einmal zu überprüfen: den Vierzeiler, den er hatte drucken lassen, die Schneeglöckchen und die weißen Rosen, die Notenständer und das Mikrofon, das man bräuchte, falls tatsächlich jemand auf die Idee kommen sollte, das Wort zu ergreifen.
    Was gab es überhaupt noch zu sagen? Viel zu viele Jahre waren vergangen, und im Rahmen der Vergabe der Stipendien war bereits alles über Andrea gesagt worden. Verlässlich hatte jedes Mal irgendeine Lokalzeitung darüber berichtet, und stets hatte man dasselbe Foto des »allzu früh verstorbenen Musikers« abgedruckt.
    Drei Alte kamen aus der Messe und traten auf den Kirchhof.
    Mit zufriedenen Mienen schritten sie einher, als hätten sie eine alte Gewohnheit oder etwas lang Vermisstes wiedergefunden. Ein junger Priester im Talar, eine Baskenmütze schräg auf dem Kopf, ordnete die weißen Buchstaben auf dem Brett, das an einem Ständer lehnte:
    Gedenkkonzert in memoriam Andrea
    Das war nicht die offizielle Beschriftung für solche Fälle, aber es würde tatsächlich ein richtiges Konzert werden. Die Gemeinde hatte zugestimmt, dass man für die Musiker ein Podest aufstellte, außerdem drei Mikrofone für den Sopran, den Tenor und den Dirigenten. Und zwei Verstärker.
    Und dass man auf das Schild nicht den vollständigen Namen schrieb.
    Andrea.
    Sechs Buchstaben reichten, um von Liebe zu sprechen.
    Der Pfarrer war ein umgänglicher Typ, und wenn es nicht despektierlich klänge, würde er ihn einen leibhaftigen Christenmenschen nennen, selbstlos auch gegenüber den wankelmütigen Schäfchen. Als Diego sein Vorhaben dargelegt hatte, schien er sich sogar zu freuen, einem jungen Menschen zu begegnen: »Dieses Jahr habe ich achtundzwanzig Beerdigungen, vierzehn Hochzeiten und gerade mal siebzehn Taufen zelebriert. Hier im Viertel sind mittlerweile alle alt. Schön, dass du so etwas für deine Eltern tust.« Natürlich hatte er bei seinen Worten nicht an sich gedacht, obwohl er sicher auf die achtzig zuging, seit Jahrzehnten in der Gemeinde wohnte, Diegos Mutter gut kannte und sonntags nach der Messe stets ein paar private Worte mit ihr wechselte. Diego nahm an, dass er versuchte, dem Geschehen einen Sinn zu verleihen und seine Mutter an die Gebote des Verzeihens und Duldens zu erinnern, in der festen Überzeugung, dass das schreckliche Unglück mit der Zeit den Charakter einer Offenbarung verlieren und – vergleichbar einem Antidepressivum – den ständig pochenden Schmerz dämpfen würde.
    Der Himmel hatte es sich anders überlegt.
    An die Stelle des strahlenden Blaus war ein sattes, graues Licht getreten und klebte an seinen Schultern wie Moos am Stein. Ein Déjà-vu: Die Wolkendecke hatte dieselbe Farbe wie damals, als er zur Sprechanlage gelaufen war, sich auf die Zehenspitzen gestellt hatte und die Pförtnerin atemlos nach dem Kindermädchen hatte rufen hören. Er sah den Mund des Kindermädchens, als es

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