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Im Café der moeglichen Traeume

Im Café der moeglichen Traeume

Titel: Im Café der moeglichen Traeume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paola Calvetti
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den Hörer fallen ließ – ewige Minuten verlor sie, weil sie darüber nachzudenken schien, ob sie schreien oder in aggressives Gelächter ausbrechen sollte –, spürte die ungestüme Umarmung, mit der sie ihn fast erstickte, und hörte all die immer wieder neu einsetzenden Schreie im Treppenhaus, die das Haus in eine exotische Voliere zu verwandeln schienen. Der kleine Diego, der von dieser fetten Frau nicht berührt werden wollte, riss sich los und flüchtete in sein Zimmer. Obwohl sie Dezember hatten, war das Fenster geöffnet, weil das Kindermädchen diesen Tick mit der Lüfterei hatte. Er hatte Grippe und war nicht zur Schule gegangen, und als er nun zum Fenster eilte und hochschaute, erschrak er über die Farbe des großen Oben, das so grau war wie ein Topfdeckel.
    Und überall die Leute, die um die reglose Marionette herumknieten.
    Die Fäden zerschnitten.
    Diego trat durch die Seitentür in die Kirche, tauchte die Fingerspitzen in das Weihwasserbecken und deutete ein Kreuzzeichen an. Die Holzbänke waren aufgestellt wie in der Schule. Stühle mit Korbgeflecht, Kniebänke, Beichtstuhl, Heiligenstatuen, die kerzengerade auf ihren Sockeln standen und im Nebel des Weihrauchs eingeschlafen zu sein schienen. In dieser losgelösten Welt überkam es ihn, und er richtete ein Gebet an die Schutzpatronin der Musik und der Blinden, die heilige Cäcilia, die an jenem Morgen offensichtlich abgelenkt gewesen war.
    Sie hatte Andrea nicht beschützt, und sie hatte ihn auch nicht gewarnt.
    Der Priester mit der Baskenmütze war in die Sakristei zurückgegangen, und so setzte sich der Pilger Diego wie damals in die für die Familie reservierte Bank, wo in wenigen Stunden auch seine Mutter Platz nehmen würde, abgemagert, in den Händen das Spitzentuch, das sie unentwegt kneten würde, ernst, von posthumem Stolz auf den Musikersohn erfüllt, der seine Melodie an jenem 6. Dezember 1982 in den Schnee geworfen hatte.
    Die Blumen standen in ihren Gefäßen, weiße Rosenknospen und Schneeglöckchen, die er hatte vorbestellen müssen, weil man sie nur mit Zwiebeln bekommt: »Bist du sicher, dass du ausgerechnet Schneeglöckchen willst? Die aufzutreiben ist gar nicht so einfach. Billig wird das jedenfalls nicht, mein Junge.« Er hatte gespart für diese Blumen, die sich mit so viel Anmut durch den Schnee drängen und sich der Legende nach nur nachts öffnen, im Garten eines Schlafzimmers. Das Podest für die Musiker war mit cremefarbenem Stoff bedeckt, und die Notenständer ragten auf wie kahle Bäume.
    4’33 von John Cage hätte gut hierhergepasst, die Metaphysik der Stille. Ein Pianist im Frack, der vier Minuten und dreiunddreißig Sekunden lang keine Taste anrührt. Schier unerträglich für die Erwachsenen. Den eigenen Herzschlag hören, das Hüsteln der Nachbarn, das Knarren der Sitze, die Verlegenheit der Kinder, die, wie er noch gut in Erinnerung hatte, an der Bahre eines der ihren nicht so recht wissen, wie sie sich verhalten sollen.
    Jetzt aber Musik, Maestro!
    Mit diesem Finale würde er sie bei ihrer Verantwortung packen. Aus den Boxen, die zu beiden Seiten des Altars aufgestellt waren, würde das Laiengedicht von R.E.M. ihre berechenbaren Gemüter aufrütteln.
    When the day is long and the night, the night is yours alone;
    When you’re sure you’ve had enough of this life, well hang on.
    Don’t let yourself go, everybody cries and everybody hurts
    sometimes.
    Sometimes everything is wrong.
    Now it’s time to sing along.
    When your day is night alone, (hold on, hold on), if you feel
    Like letting go, (hold on), when you think you’ve had too much
    Of this life, well hang on.
    Andrea, zwei Tage vor meinem achtzehnten Geburtstag ist dieses Konzert mein Geschenk für dich.

12:17 Uhr
    Die Christbaumkugeln hängen wie staubige Schmetterlinge an der Deckenlampe, und auf dem Fensterbrett hat sich jetzt eine ganze Vogelfamilie versammelt und balgt sich um den knappen Platz. Ich habe meine zweite heiße Schokolade ausgetrunken und sammele meine Gedanken. Das Leben geht weiter, als wäre nichts geschehen, was die Relativität meiner Misere unter Beweis stellt. Was außerdem unter Beweis stellt, dass ich manchmal so lange nach der Lösung für ein Problem suche, dass ich am Ende das Problem ganz vergessen habe. Seit über zwei Stunden hänge ich nun schon in dieser vom Rest

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