Im Café der verlorenen Jugend - Modiano, P: Im Café der verlorenen Jugend
auf die Beine zu stellen, bevor er für die Immobiliengesellschaft Zannetacci als geschäftsführender Kompagnon zu arbeiten begann.
»Arbeiten Sie da immer noch?«
»Ja. In der Rue de la Paix Nr. 20.«
Mit welchem Verkehrsmittel fuhr er ins Büro? Jedes Detail, auch das scheinbar nichtigste, ist aufschlussreich. Mit dem Auto. Ab und zu machte er Reisen für Zannetacci. Lyon. Bordeaux. Côte d’Azur. Genf. Und Jacqueline Choureau, geborene Delanque, blieb sie allein in Neuilly? Manchmal hatte er sie mitgenommen auf seinen Fahrten, an die Côte d’Azur. Und wenn sie allein war, womit vertrieb sie sich dann ihre Zeit? Gab es wirklich niemanden, der ihm Auskunft erteilen konnte über das Verschwinden von Jacqueline, verheiratete Choureau, geborene Delanque, oder wenigstens einen winzigen Hinweis liefern? »Ich weiß nicht, vielleicht hat sie an einem trübseligen Tag etwas Vertrauliches erzählt …« Nein. Sie hätte sich nie irgendwem anvertraut. Oft habe sie ihm den Phantasiemangel seiner Freunde vorgeworfen. Natürlich, sie war ja auch fünfzehn Jahre jünger als sie alle.
Ich kam jetzt zu einer Frage, die mich schon im voraus betrübte, aber ich musste sie stellen:
»Glauben Sie, dass sie einen Liebhaber hatte?«
Der Klang meiner Stimme schien mir ein wenig brutal und auch ein wenig dumm. Aber so war es nun mal. Er hat die Stirn gerunzelt.
»Nein.«
Er zögerte, blickte mir gerade in die Augen, als warte er auf eine Ermunterung meinerseits oder suche nach Worten. Eines Abends war einer seiner Freunde von der Wirtschaftshochschule zum Essen gekommen, mit einem gewissen Guy de Vere, einem Mann, der älter war als sie. Dieser Guy de Vere zeigte sich sehr bewandert in okkulten Wissenschaften und hatte angeboten, ihnen Bücher zu diesem Thema mitzubringen. Seine Frau hatte an mehreren Treffen teilgenommen und sogar an Vorträgen, die dieser Guy de Vere regelmäßig hielt. Er hatte sie nicht begleiten können, wegen der vielen Arbeit im Büro von Zannetacci. Seine Frau bekundete Interesse an diesen Treffen und Vorträgen und erzählte oft davon, ohne dass er genau verstanden hätte, worum es ging. Unter den Büchern, die Guy de Vere ihr empfohlen hatte, war auch eines, das sie ihm zu lesen gab, das einfachste, ihrer Meinung nach. Es hieß Der verlorene Horizont . War er mit Guy de Vere in Verbindung getreten, nach dem Verschwinden seiner Frau? Ja, er hatte ihn mehrmals angerufen, doch er wusste von nichts. »Sind Sie wirklich sicher?« Er hat die Schultern gezuckt und mich mit einem müden Blick angeschaut. Dieser Guy de Vere war sehr ausweichend gewesen, und er hatte verstanden, dass er von ihm nichts erfahren würde. Der genaue Name und die Adresse dieses Mannes? Seine Adresse kannte er nicht. Er stand nicht im Adressbuch.
Ich suchte nach anderen Fragen. Schweigen zwischen uns, doch ihn schien das nicht weiter zu stören. Wir saßen auf diesem Kanapee, nebeneinander, wie im Wartezimmer eines Dentisten oder eines Arztes. Weiße und nackte Wände. Das Porträt einer Frau hing über dem Kanapee. Fast hätte ich nach einer der Zeitschriften auf dem niedrigen Tisch gegriffen. Mich überfiel ein Gefühl von Leere. Ich muss sagen, in diesem Augenblick empfand ich die Abwesenheit von Jacqueline Choureau, geborene Delanque, so stark, dass sie mir wie endgültig vorkam. Aber ich durfte nicht pessimistisch sein, nicht gleich am Anfang. Und außerdem, erweckte dieses Wohnzimmer nicht den gleichen Eindruck von Leere, auch wenn diese Frau zugegen war? Aßen sie hier? Wahrscheinlich auf einem Bridgetisch, den sie hinterher wieder zusammenklappten und wegräumten. Ich wollte wissen, ob sie aus einer plötzlichen Anwandlung heraus gegangen war und persönliche Sachen zurückgelassen hatte. Nein. Sie hatte ihre Kleider mitgenommen und die paar Bücher, die Guy de Vere ihr geliehen hatte, alles in einem granatroten Lederkoffer. Nicht die kleinste Spur von ihr war noch da. Sogar ihre Fotos – einige wenige Urlaubsfotos – waren verschwunden. Abends, allein in der Wohnung, fragte er sich, ob er jemals mit dieser Jacqueline Delanque verheiratet gewesen war. Der einzige Beweis, dass das alles kein Traum sein konnte, war dieses Familienstammbuch, das man ihnen nach der Hochzeit ausgehändigt hatte. Familienstammbuch. Er hat dieses Wort vor sich hin gesagt, als begreife er seinen Sinn nicht mehr.
Es war überflüssig, die anderen Räume der Wohnung anzuschauen. Leere Zimmer. Leere Schränke. Und die Stille, kaum unterbrochen von
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