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Im Café der verlorenen Jugend - Modiano, P: Im Café der verlorenen Jugend

Im Café der verlorenen Jugend - Modiano, P: Im Café der verlorenen Jugend

Titel: Im Café der verlorenen Jugend - Modiano, P: Im Café der verlorenen Jugend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Modiano
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die ich zwischen Daumen und Zeigefinger hielt und die ich stumm betrachtete. Braunes Haar, helle Augen und eines jener Profile, die so rein sind, dass sogar ein anthropometrisches Foto Charme ausstrahlt. Und die beiden hier besaßen wirklich das Grau-in-Grau und die Kälte anthropometrischer Fotos.
    »Vertrauen Sie mir die für eine Weile an?« habe ich ihn gefragt.
    »Sicher.«
    Ich steckte den Umschlag in eine Tasche meines Jacketts.
    Es gibt einen Zeitpunkt, wo man auf niemanden mehr hören darf. Er, Jean-Pierre Choureau, was wusste er eigentlich von Jacqueline Delanque? Nicht viel. Sie hatten ein knappes Jahr zusammengelebt, in diesem Erdgeschossappartement von Neuilly. Sie hatten Seite an Seite auf diesem Kanapee gehockt, miteinander zu Abend gegessen, von Angesicht zu Angesicht, und manchmal mit den alten Freunden von der Wirtschaftshochschule und vom Lycée Jean-Baptiste-Say. Reicht das, um zu erraten, was im Kopf eines anderen Menschen vorgeht? Sah sie noch irgendwen aus ihrer Familie? Ich hatte mich ein letztes Mal zusammengerissen, um diese Frage zu stellen.
    »Nein. Sie hatte keine Familie mehr.«
    Ich bin aufgestanden. Er hat mir einen ängstlichen Blick zugeworfen. Und er blieb auf dem Kanapee sitzen.
    »Ich muss jetzt gehen«, sagte ich. »Es ist spät.«
    Ich lächelte, doch er schien wirklich überrascht, dass ich ihn verlassen wollte.
    »Ich rufe so bald wie möglich an«, sagte ich. »Ich hoffe, Ihnen demnächst etwas berichten zu können.«
    Nun ist auch er aufgestanden, mit jener nachtwandlerischen Bewegung, mit der er mich vorhin auch ins Wohnzimmer geführt hatte. Eine letzte Frage kam mir in den Sinn:
    »Hat sie Geld mitgenommen?«
    »Nein.«
    »Und wenn sie anrief, nach ihrer Flucht, hat sie Ihnen irgendwelche Andeutungen gemacht über ihre Lebensumstände?«
    »Nein.«
    Er ging mit seinem steifen Gang bis zur Wohnungstür. Konnte er auf meine Fragen noch antworten? Ich habe die Tür aufgemacht. Er stand hinter mir, wie erstarrt. Ich weiß nicht, was für ein Taumel mich packte, was für ein Anfall von Bitterkeit, jedenfalls habe ich in aggressivem Ton zu ihm gesagt:
    »Sie haben wohl gehofft, mit ihr alt zu werden?«
    Wollte ich ihn aus seiner Benommenheit reißen, aus seiner Lethargie? Er hat die Augen weit aufgesperrt und mich erschrocken angestarrt. Ich war bereits auf der Türschwelle. Ich trat einen Schritt auf ihn zu und legte ihm meine Hand auf die Schulter:
    »Sie können mich jederzeit anrufen. Ganz gleich, um welche Stunde.«
    Sein Gesicht entkrampfte sich. Er hatte sogar die Kraft zu lächeln. Bevor er die Tür schloss, winkte er noch einmal. Ich bin eine ganze Weile im Flur stehengeblieben, und das Treppenlicht erlosch. Ich stellte mir vor, wie er sich allein wieder aufs Kanapee setzte, auf denselben Platz wie zuvor. Mechanisch griff er nach einer der Zeitschriften, die sich auf dem niedrigen Tisch stapelten.
    Draußen war es finster. Ich konnte meine Gedanken nicht lösen von diesem Mann in seinem Erdgeschossappartement, unter dem grellen Licht der Lampe. Würde er noch etwas essen vor dem Schlafengehen? Ich fragte mich, ob es dort eine Küche gab. Ich hätte ihn zum Abendessen einladen sollen. Vielleicht hätte er ja, ohne dass ich überhaupt Fragen stellte, etwas gesagt, irgendein Geständnis gemacht, das mich auf die Spur von Jacqueline Delanque gebracht hätte. Blémant sagte immer, bei jedem Menschen, selbst bei dem verstocktesten, komme ein Augenblick, wo er »auspackt«: das war so seine Redensart. Und wir müssten mit äußerster Geduld auf diesen Augenblick warten und natürlich versuchen, ihn herbeizuführen, freilich auf beinah unmerkliche Weise, Blémant pflegte zu sagen: »mit feinen Nadelstichen«. Der Kerl muss das Gefühl haben, er sitze vor seinem Beichtvater. Das ist schwierig. Das macht die Erfahrung. Ich war an der Porte Maillot angekommen und wollte noch ein wenig durch die laue Nacht spazieren. Leider taten mir meine neuen Schuhe auf dem Rist ziemlich weh. Also bin ich auf der Avenue ins erstbeste Café gegangen und habe mich an einen der Tische neben der Glasfront gesetzt. Ich habe meine Schuhe aufgeschnürt und den linken, der am meisten drückte, ausgezogen. Als der Kellner kam, konnte ich dem flüchtigen Moment von Vergessen und Wohligkeit, den mir ein grüner Izarra verschaffen würde, nicht widerstehen.
    Ich habe den Umschlag aus meiner Tasche gezogen und mir die beiden Automatenbilder lange angeschaut. Wo war sie jetzt? In einem Café, wie ich, allein

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