Im Café der verlorenen Jugend - Modiano, P: Im Café der verlorenen Jugend
einem Auto, das durch die Avenue de Bretteville fuhr. Die Abende mussten endlos sein.
»Hat sie den Schlüssel mitgenommen?«
Er schüttelte den Kopf. Nicht einmal die Hoffnung, eines Nachts das Knirschen des sich drehenden Schlüssels zu hören, das ihre Rückkehr verkündete. Und er glaubte auch nicht, dass sie jemals wieder anrufen würde.
»Wie haben Sie sie kennengelernt?«
Sie war bei Zannetacci eingestellt worden, um eine Mitarbeiterin zu vertreten. Als Aushilfssekretärin. Er hatte ihr ein paar Briefe an Kunden diktiert, und so hatten sie einander kennengelernt. Sie hatten sich außerhalb des Büros gesehen. Sie hatte ihm erzählt, sie studiere an der Hochschule für orientalische Sprachen und besuche zweimal die Woche den Unterricht, er habe jedoch nie erfahren, um welche Sprachen es sich eigentlich handelte. Asiatische Sprachen, sagte sie. Und nach zwei Monaten hatten sie geheiratet, an einem Samstagmorgen im Standesamt von Neuilly, mit zwei Bürokollegen von Zannetacci als Trauzeugen. Niemand sonst wohnte diesem Akt bei, der für ihn reine Formsache war. Sie waren mit den Trauzeugen zum Mittagessen gegangen, ganz in der Nähe seiner Wohnung, am Rand des Bois de Boulogne, in ein Restaurant, wo meistens Besucher der nahegelegenen Reitanlagen saßen.
Er warf mir einen verlegenen Blick zu. Offenbar hätte er mir diese Heirat gern ausführlicher erklärt. Ich habe ihn angelächelt. Ich brauchte keine Erklärungen. Er gab sich einen Ruck, und als würde er ins Wasser springen:
»Man will eben Bindungen schaffen, verstehen Sie …«
Natürlich verstand ich das. In diesem Leben, das uns manchmal vorkommt wie eine große Brachfläche ohne Wegweiser, inmitten all dieser Fluchtlinien und verlorenen Horizonte, würde man gern Bezugspunkte finden, eine Art von Kataster anlegen, um nicht länger das Gefühl zu haben, dass man sich ziellos treiben lässt. Also knüpft man Beziehungen, versucht, ungewisse Zufallsbekanntschaften zu festigen. Ich schwieg und starrte auf den Zeitschriftenstapel. Mitten auf dem niedrigen Tisch ein großer gelber Aschenbecher mit der Aufschrift: Cinzano. Und ein broschiertes Buch mit dem Titel Adieu Focolara . Zannetacci. Jean-Pierre Choureau. Cinzano. Jacqueline Delanque. Standesamt von Neuilly. Focolara. Und das alles sollte irgendeinen Sinn ergeben …
»Und außerdem war sie eine Person, die Charme besaß … Ich habe mich auf den ersten Blick in sie verliebt …«
Kaum hatte er dieses Geständnis mit leiser Stimme ausgesprochen, schien es ihn schon wieder zu reuen. In den Tagen vor ihrem Verschwinden, war ihm da etwas Besonderes an ihr aufgefallen? Nun ja, immer öfter machte sie ihm Vorwürfe wegen ihres gemeinsamen Alltags. Das hier, sagte sie, sei nicht das wahre Leben. Und wenn er sie fragte, worin genau das WAHRE LEBEN bestehe, zuckte sie wortlos die Schultern, als wisse sie, dass er nichts verstehen würde von ihren Erklärungen. Und dann zeigte sie wieder ihr Lächeln und ihre Freundlichkeit, und fast entschuldigte sie sich wegen ihrer schlechten Laune. Sie machte ein resigniertes Gesicht und sagte, im Grunde sei alles ja nicht so schlimm. Eines Tages werde er vielleicht verstehen, was das WAHRE LEBEN sei.
»Sie haben wirklich kein einziges Foto von ihr?«
Eines Nachmittags waren sie an der Seine spazierengegangen. Er wollte in Châtelet die Metro nehmen und ins Büro fahren. Auf dem Boulevard du Palais hatten sie die Fotokabine entdeckt. Sie brauchte Bilder für einen neuen Reisepass. Er hatte auf dem Trottoir gewartet. Als sie wieder herausgekommen war, hatte sie ihm die Bilder anvertraut und gesagt, sie habe Angst, sie zu verlieren. Im Büro hatte er die Bilder in einen Umschlag gesteckt und dann vergessen, sie mit nach Neuilly zu nehmen. Nach dem Verschwinden seiner Frau war ihm aufgefallen, dass der Umschlag immer noch auf dem Schreibtisch lag, zwischen anderen amtlichen Dokumenten.
»Warten Sie einen Augenblick?«
Er ließ mich allein auf dem Kanapee. Es war finster geworden. Ich habe auf meine Uhr geschaut und mich gewundert, dass die Zeiger erst auf Viertel vor sechs standen. Ich hatte das Gefühl, schon viel länger hier zu sein.
Zwei Bilder in einem grauen Umschlag, links der Aufdruck: »Immobilien Zannetacci (Frankreich), 20, Rue de la Paix, Paris, 1. Arr.« Ein Bild von vorn, das andere im Profil, so, wie es die Polizeipräfektur einst bei Ausländern verlangte. Ihr Name: Delanque und ihr Vorname: Jacqueline waren aber eindeutig französisch. Zwei Bilder,
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