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Im Café der verlorenen Jugend - Modiano, P: Im Café der verlorenen Jugend

Im Café der verlorenen Jugend - Modiano, P: Im Café der verlorenen Jugend

Titel: Im Café der verlorenen Jugend - Modiano, P: Im Café der verlorenen Jugend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Modiano
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an einem Tisch? Wahrscheinlich hatte mich der Satz, der vorhin gefallen war, auf diesen Gedanken gebracht: »Man will eben Bindungen schaffen …« Begegnungen auf der Straße, in einer Metrostation zur Hauptverkehrszeit. In solchen Augenblicken müsste man sich mit Handschellen aneinanderketten. Welche Bindung widersteht diesem Strom, der einen mitreißt und abdriften lässt? Ein anonymes Büro, wo man einer Aushilfstippse einen Brief diktiert, ein Erdgeschossappartement in Neuilly, dessen weiße Wände an eine sogenannte »Musterwohnung« erinnern und wo man keine Spur seines kurzen Aufenthalts hinterlassen wird … Zwei Automatenbilder, eines von vorn, das andere im Profil … Und damit soll man Bindungen schaffen? Jemand konnte mir bei meinen Nachforschungen helfen: Bernolle. Ich hatte ihn seit der Zeit mit Blémant nicht wiedergesehen, außer an einem Nachmittag vor drei Jahren. Ich hatte gerade die Metro nehmen wollen und ging über den Vorplatz von Notre-Dame. Eine Art Clochard kam aus dem Hôtel-Dieu, und wir liefen aneinander vorbei. Er trug einen Regenmantel mit ausgefransten Ärmeln, eine Hose, die über den Knöcheln aufhörte, und seine bloßen Füße steckten in alten Sandalen. Er war schlecht rasiert und sein schwarzes Haar viel zu lang. Trotzdem habe ich ihn wiedererkannt. Bernolle. Ich bin ihm gefolgt in der Absicht, ihn anzusprechen. Doch er bewegte sich schnell. Er ging durch das große Tor der Polizeipräfektur. Ich zögerte kurz. Es war zu spät, um ihn noch zu erwischen. Also beschloss ich, auf ihn zu warten, da, auf dem Trottoir. Schließlich waren wir einmal zusammen jung gewesen.
    Er kam durch dasselbe Tor wieder heraus, in einem marineblauen Mantel, einer Flanellhose und schwarzen Schnürschuhen. Er wirkte peinlich berührt, als ich ihn ansprach. Er war frisch rasiert. Wir gingen am Quai entlang, ohne ein Wort zu sagen. Als wir dann im Soleil d’Or an einem Tisch saßen, vertraute er sich mir an. Man beschäftigte ihn noch für gewisse Ermittlungen, oh, nichts Besonderes, Spitzeldienste und Maulwurfsarbeit, wobei er den Clochard spielte, um besser sehen und hören zu können, was um ihn herum vorging: Postenstehen vor irgendwelchen Gebäuden, auf Flohmärkten, in Pigalle, rund um die Bahnhöfe und sogar im Quartier Latin. Er lächelte traurig. Er wohnte in einer Garçonnière im 16. Arrondissement. Er hat mir seine Telefonnummer gegeben. Keine Sekunde haben wir über die Vergangenheit gesprochen. Er hatte seine Reisetasche neben sich auf die Bank gestellt. Er wäre wohl sehr überrascht gewesen, wenn ich ihm gesagt hätte, was sie enthielt: einen alten Regenmantel, eine zu kurze Hose, zwei Sandalen.
    Noch am selben Abend, als ich von dem Termin in Neuilly zurückkam, habe ich ihn angerufen. Seit unserem Wiedersehen hatte ich mich hin und wieder an ihn gewandt, wenn ich besondere Auskünfte brauchte. Ich habe ihn gebeten, mir genauere Angaben über die besagte Jacqueline Delanque, verheiratete Choureau, zu besorgen. Viel mehr konnte ich ihm über diese Person nicht sagen, nur ihr Geburtsdatum und das Datum ihrer Hochzeit mit einem gewissen Choureau Jean-Pierre, Avenue de Bretteville Nr. 11, in Neuilly, geschäftsführender Kompagnon bei Zannetacci. Er hat sich Notizen gemacht. »Ist das alles?« Er wirkte enttäuscht. »Und die Leute haben auch keine Eintragungen im Strafregister, nehme ich an?« sagte er mit verächtlicher Stimme. Strafregister. Strafgefangene.
    Ich habe noch versucht, mir das Schlafzimmer der Choureaus in Neuilly vorzustellen, diese Zelle, in die ich aus Berufsethos einen Blick hätte werfen sollen. Ein für allezeit leeres Zimmer, ein Bett und darauf nur eine Matratze.
    Während der folgenden Wochen hat mich Choureau mehrmals angerufen. Er sprach immer mit tonloser Stimme, und es war immer sieben Uhr abends. Vielleicht verspürte er um diese Zeit, allein in seinem Erdgeschossappartement, das Bedürfnis, mit irgendwem zu reden. Ich sagte, er müsse sich gedulden. Ich hatte das Gefühl, dass er nicht mehr daran glaubte und das Verschwinden seiner Frau allmählich akzeptierte. Da kam ein Brief von Bernolle:
    Mein lieber Caisley,
    keine Eintragung im Strafregister. Weder unter Choureau noch unter Delanque.
    Doch wie der Zufall so spielt: eine mühselige statistische Arbeit in den Kladden der Polizeireviere vom 9. und 18. Arrondissement hat mir erlaubt, ein paar Informationen für Sie aufzutreiben.
    Zweimal bin ich auf »Delanque, Jacqueline, 15 Jahre« gestoßen. Das erste

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