Im Dienst des Seelenfängers
Raven eine wahre Flut von Fragen. Sie waren nicht einfach. Fragen dieser Art konnte man von einem Heerführer in der Ausbildung erwarten, von einem Fürsten, jeman- dem, der irgendwann den Oberbefehl übernehmen sollte. »Sollte sie sich nicht an einem sichereren Ort aufhalten?« fragte ich. »Ich meine…« »Wo denn?« fragte Raven heftig. »Wo wäre sie denn sicherer als bei mir?« Seine Stimme klang hart, seine Augen waren argwöhnische Schlitze. Erschrocken ließ ich das Thema fallen. War er eifersüchtig, weil ich mich mit Darling angefreundet hatte? Ich weiß es nicht. An Raven ist alles sonderbar.
Teile des äußeren Grabens waren mittlerweile verschwunden. An einigen Stellen war der mittlere Graben aufgefüllt und festgestampft worden. Die Rebellen hatten die übriggebliebe- nen Türme und Rampen bis an die äußerste Grenze unserer Artillerie verlagert. Neue Türme wurden gebaut. Überall waren neue Schutzwehren; hinter jeder einzelnen kauerten sich Män- ner zusammen.
Unter gnadenlosem Feuer überbrückten Pioniere der Rebellen den letzten Graben. Wieder und wieder wurden sie von Gegenangriffen aufgehalten, und dennoch kamen sie immer wie- der. In der dritten Nachmittagsstunde stellten sie ihre achte Brücke fertig. Gewaltige Infanterieformationen rückten vor. Sie schwärmten über die Brücken mitten in den Pfeilsturm hinein. Sie trafen wie Hagel hier und dort auf unsere erste Reihe und starben an einem Wall aus Speeren und Schilden und Schwertern. Leichen türmten sich zuhauf. Unse- re Bogenschützen füllten beinahe die Gräben neben den Brücken. Und sie kamen immer noch. Ich erkannte einige Banner, die ich schon bei Rosen und Lords gesehen hatte. Die Elitetrup- pen kamen zum Einsatz.
Sie überquerten die Brücken, stellten sich auf, rückten in einigermaßen anständiger Formati- on vor und übten heftigen Druck auf unsere Mitte aus. Hinter ihnen bildete sich eine zweite Reihe, stärker, tiefer und breiter. Als sie sich formiert hatte, ließen ihre Offiziere sie ein paar Meter vorrücken, während die Männer sich hinter den Schilden verbargen. Pioniere setzten mit Schutzwehren über und gesellten sich in einer Art Palisade dazu. Unsere schwersten Geschütze richteten das Feuer darauf. Jenseits des Grabens brachten ganze Scha- ren Abraum an ausgesuchte Stellen.
Obwohl die Männer auf der untersten Ebene die am wenigsten verläßlichen waren – vermut-
lich war die Auslosung nicht ganz fair verlaufen –, warfen sie doch die Rebellenelite zurück. Der Erfolg verschaffte ihnen nur eine kleine Atempause. Die nächste Masse ging zum Angriff über.
Unsere Linie begann zu ächzen. Vielleicht wäre sie auch zusammengebrochen, wenn die Männer einen Ort zum Davonlaufen gehabt hätten. Fliehen war ihnen zur Gewohnheit gewor- den. Aber hier saßen sie in der Falle und hatten keine Chance, die Blockademauer zu erklim- men.
Die Welle brandete wieder zurück. Mondbeißer rückte in seinem Abschnitt vor und trieb den Feind vor sich her. Er zerstörte die meisten ihrer Schutzwehren und bedrohte für | kurze Zeit ihre Brücken. Seine Aggressivität beeindruckte mich. Es war spät. Die Lady hatte sich nicht gezeigt. Vermutlich hatte sie nicht daran gezweifelt, daß wir aushalten würden. Der Feind startete einen letzten Ansturm, eine menschliche An- griffswelle, der es um Haaresbreite gelungen wäre, unsere Männer zu überrennen. An einigen Stellen erreichten die Rebellen den Blockadewall und versuchten, ihn zu erklettern oder au- seinanderzunehmen. Aber unsere Männer blieben standhaft. Der unaufhörliche Pfeilregen brach die Entschlossenheit der Rebellen. Sie zogen sich zurück. Hinter den Schutzwehren sammelten sich frische Gruppen. Vorüber- gehende Ruhe kehrte ein. Das Feld gehörte ihren Pionieren. »Sechs Tage«, sagte ich, ohne jemanden speziell angesprochen zu haben. »Ich glaube nicht, daß wir das noch schaffen.«
Die erste Reihe konnte den morgigen Tag nicht überleben. Die Horde würde die zweite Stu- fe erstürmen. Unsere Bogenschützen waren die reinsten Todesbringer, was sie als Bo- genschützen betraf, aber ich bezweifelte, daß sie im Kampf Mann gegen Mann ebenso gut abschneiden würden. Zudem konnten sie, sobald sie zum Nahkampf gezwungen waren, den aufrückenden Feind nicht mehr unter Feuer nehmen. Dann würden die Türme der Rebellen sie ebenso zusammenschießen, wie sie es mit ihnen getan hatten. Nahe dem hinteren Ende der Pyramidenspitze hatten wir einen schmalen Graben ausgeho- ben, der uns
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