Im Dienste der Comtesse
Bertiers Tod lösen musste.
„Anfangs hat er mich überhaupt nicht unfreundlich behandelt“, sagte sie, um Bertier gegenüber nicht ungerecht zu sein. „Natürlich war alles nicht so ideal. Wir waren am Tag unserer Hochzeit buchstäblich Fremde. Ich sah ihn zum ersten Mal, als der Ehevertrag unterzeichnet wurde. Er war sehr förmlich, und manchmal war es etwas beschämend, aber im ersten Jahr und sogar noch darüber hinaus war er recht liebenswert.“
„Und dann fing er an, sich zu verändern?“
„Es begann mit schrecklichen Wutanfällen, später wurde er ziemlich mürrisch. Ich versuchte, ihm aus dem Weg zu gehen.“
„Wissen Sie, warum er so düsterer Stimmung war?“
„Am Anfang dachte ich, es läge daran, dass ich ihm noch keinen Erben geschenkt hatte, und ich war darüber auch sehr unglücklich“, erzählte sie. „Doch dann dachte ich darüber nach – er war mit seiner ersten Frau jahrelang verheiratet gewesen, ohne Kinder zu haben. Warum sollte es also an mir liegen?“
„Ihr Vater scheint zu demselben Schluss gekommen zu sein“, wandte Pierre ein.
„Ich weiß nicht, weshalb er das nicht schon früher in Betracht gezogen hat“, sagte Mélusine verbittert. „Es ist ja nicht so, dass Derartiges ganz neu für ihn wäre.“
„Madame?“
„Ein paar Monate vor meiner Geburt war er schwer krank“, berichtete sie. „Niemand glaubte, dass er überleben würde. Doch er tat es. Mama hat mir einmal davon erzählt, als sie besonders niedergeschlagen war. Alle hatten immer angenommen, es hätte an ihr gelegen, dass sie keine Kinder mehr bekamen. Sie jedoch gestand mir, dass er nach seiner Krankheit keine mehr zeugen konnte – deswegen war er auch so verzweifelt, dass ich ein Mädchen war. Ich war das einzige Kind, was er je haben würde.“
„Umso mehr hätten Sie für ihn ein wahres Gottesgeschenk sein müssen“, brauste Pierre auf.
Sie starrte ihn mit großen Augen an und konnte förmlich seinen Zorn spüren. „Das hat noch nie jemand gesagt“, flüsterte sie.
„Ein schweres Versäumnis.“ Er sprang von seinem Sessel auf und ging zum Fenster hinüber.
Mélusine betrachte seine angespannten Schultern. „Mama meinte einmal, das wäre für Vater eine Strafe Gottes“, fuhr sie fort. „Aber dem kann ich nicht zustimmen. Es wäre doch sehr ungerecht, Vater damit eine Lektion zu erteilen, dass er unfreundlich zu anderen wird. Ich glaube, es war einfach etwas … das nun mal passiert ist. Durch Zufall, nicht durch Vorsehung.“
„Das ist eine sehr einfühlsame Einstellung, Madame.“ So schroff hatte seine Stimme noch nie geklungen, und er wandte sich auch nicht vom Fenster ab.
Mélusine krampfte sich der Magen zusammen. Pierre kehrte ihr den Rücken zu, aber er war unmissverständlich zornig, und die Erfahrung hatte sie gelehrt, sich vor zornigen Männern in Acht zu nehmen, ja, sie sogar zu fürchten. Instinktiv reagierte sie in solchen Situationen stets so, dass sie stumm blieb und nichts tat, was ihre Aufmerksamkeit wieder auf sie lenken konnte. Doch schon nach ein paar Sekunden wurde ihr klar, dass sie die Erfahrungen aus der Vergangenheit nicht gedankenlos auf Pierre übertragen konnte. Er hatte sie noch nie unfreundlich behandelt.
Sie erhob sich und ging zu ihm hinüber. Er sah sie nicht an, doch auch sein Profil ließ erkennen, wie grimmig er war. Es ir ritierte sie, wie viel Mut sie aufbringen musste, um seinen Arm zu berühren – und war schockiert, dass seine Muskeln sich wie Stein unter ihren Fingern anfühlten. „Sind Sie … sind Sie wütend auf … Vater ?“, fragte sie leise.
„Ja, Madame“, erwiderte er knapp und drehte sich zu ihr um.
Fast machte es sie ein wenig atemlos, dass er einen solchen Zorn empfinden konnte wegen etwas, das sie betraf. „Weil …?“, fragte sie und biss sich auf die Unterlippe, während sie auf seine Antwort wartete.
„Ein Mann sollte diejenigen beschützen, die von ihm abhängig sind“, sagte er. „Und nicht schlecht behandeln wegen etwas, woran sie keine Schuld tragen – oder sie benutzen, nur um den eigenen Ehrgeiz zu befriedigen.“
Pierres Erklärung war so unerwartet und so kompromisslos im Urteil über das Verhalten ihres Vaters, dass Mélusine das für sie ganz untypische Bedürfnis hatte, zu weinen. Aber sie hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass Tränen keine Lösung brachten und einen höchstens noch verwundbarer machten.
Sie wartete ab, bis sie sicher war, wieder mit halbwegs fester Stimme sprechen zu können.
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