Im Dienste Der Koenigin
Kannte sie Anna wirklich so gut, wie sie immer geglaubt hatte?
Lange und prüfend blickte sie der Sterbenden ins Gesicht und befragte ihr eigenes Herz: Hatte ihre geliebte Anna es wirklich zugelassen, dass ihr eigener Sohn seine schuldlose Existenz als Gefangener in einer finsteren Zelle verbüßte - weggesperrt sein Leben lang, das Antlitz verborgen hinter einer Maske?
Doch die Wahrheit würde sie in diesem Leben wohl nicht mehr erfahren. Seufzend begriff die betagte Herzogin, dass es auch unter den besten Freundinnen gewisse Grenzen gab, die keine überschreiten durfte: Anna würde ihr Geheimnis - so sie denn eines hatte - mit ins Grab nehmen …
Marie war es, die am frühen Morgen des 19. Januar 1666 hörte, wie die soeben erwachte Königinmutter, ihre einstmals in ganz Europa für ihre Schönheit berühmten Hände betrachtend, mit einem Anflug von Selbstironie meinte:
»Sieh nur, Marie, ma Chère, wie geschwollen meine Finger sind. Es ist wohl endgültig Zeit für mich, abzutreten.«
Anna bat die Chevreuse, den König und seinen Bruder, Monsieur Philippe, holen zu lassen. In der Zwischenzeit half ihr die Freundin, sich im Bett aufzusetzen; sie stopfte ihr mehrere Kissen in den Rücken, damit Anna eine bequemere Haltung einnehmen konnte.
Danach führte die Todgeweihte längere Zeit Einzelgespräche mit ihren Söhnen, erst mit Ludwig und anschließend mit ihrem Sorgenkind Philippe.
Schließlich war das im Vorzimmer still ausharrende Publikum erneut an der Reihe, vor ihrem Sterbelager zu defilieren. Die bedrückten Hofdamen und die nicht minder traurigen Kavaliere wechselten erstaunte Blicke. Die Sterbende schien sich von einem auf den anderen Augenblick verwandelt zu haben. Überrascht sahen die Höflinge eine Frau mit
leuchtenden Augen und frischen, rosigen Wangen im Bett sitzen. Die Älteren unter ihnen erinnerten sich noch an die attraktive, vor Energie und Lebensfreude geradezu sprühende Regentin Anna, die nach dem Tod ihres Gemahls begonnen hatte, das Leben zu genießen, und die der strahlende Mittelpunkt so vieler, prunkvoller Feste gewesen war.
Noch einmal sahen sie sie vor sich, ihre wunderschöne Königin. Ludwig XIV. konnte seine Tränen nicht mehr zurückhalten. Erschüttert flüsterte er seinem Gefolge zu: »Seht nur, Messieurs, Mesdames! Noch nie ist meine Maman so schön gewesen, wie jetzt, wo sie sich anschickt, ins Himmelreich einzugehen.«
Am Abend wurde ihr durch den Erzbischof von Paris das Sakrament der Letzten Ölung gespendet, nachdem sie gebeichtet und die heilige Kommunion empfangen hatte. Nach einer starken Dosis Opium versank die Königin in einen tiefen, todesähnlichen Schlaf.
Ludwig XIV., der auch beim Tod einer so nahen Angehörigen wie der eigenen Mutter nicht anwesend sein durfte, stürzte schluchzend aus dem Sterbezimmer. Nur ein Mönch aus dem nahen Franziskanerkloster sowie drei Nonnen und ihre Vertraute Marie, mit der sie gemeinsam alt geworden war, harrten diese Nacht in Annas letzten Stunden an ihrer Seite aus.
»Mitten in der Nacht ist Königin Anna noch einmal erwacht und bat mich, ihr ein Kreuz in die Hand zu geben«, berichtete am nächsten Morgen die vor Gram gebeugte, weißhaarige und uralt aussehende Marie de Chevreuse den Hofdamen.
»Mit steifen, geschwollenen Fingern umklammerte Madame das Kruzifix und murmelte inbrünstig ein Gebet um Vergebung ihrer Sünden. Dann verstummte Ihre Majestät und rang nach Atem. Und selbst, nachdem ihr gütiges Herz
gegen Morgen seinen allerletzten Schlag getan hatte, hielt Anna das silberne Kreuz immer noch fest an ihre Brust gedrückt.«
Nach einer Weile fügte die langjährige Vertraute Annas leise - aber mit ihrem üblichen, leicht ironischen Lächeln - hinzu:
»Kurz vor ihrem Tod hat meine geliebte Anna mir versprochen, mich bald zu sich in den Himmel zu rufen. Vielleicht ist es im Jenseits auch unter all den Heiligen ganz angebracht, wenigstens eine ehrliche Freundin und Vertraute bei sich zu haben - wer weiß das schon so genau?«
Als Marie die Gemächer der verstorbenen Königin Anna verließ, um sich nach Hause zu begeben und sich endlich nach den langen und bangen Stunden am Sterbebett der Freundin ein wenig auszuruhen, trat Céleste auf sie zu und legte ihr den Arm um die Schulter.
»Komm, Liebste«, sagte sie zu der erschöpften und wie erloschen wirkenden Herzogin. »Ich bringe dich heim und werde an deiner Seite wachen, bis du eingeschlafen bist. Ab jetzt wollen wir zusammenbleiben und ich werde
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