Im Dreieck des Drachen
ihr die Umhängetasche hin, in der sich die Fotoausrüstung befand. Karen nahm sie ihr ab, sodass die zierliche Professorin über die Reling klettern konnte.
Miyuki verzog das Gesicht, als sie unter dem Absatz etwas Qualliges und Schleimiges zerquetschte. »Du besorgst mir neue Schuhe, wenn wir hier fertig sind.«
»Neue Ferragamos, versprochen«, spöttelte Karen. »Direkt aus Italien.«
Miyuki verbiss sich ein Lächeln. Noch immer wollte sie sich nicht eingestehen, dass sie das Abenteuer genoss. »Na gut, ich denke, darauf können wir uns einigen.«
»Komm schon! Ich möchte mir die Tempelruine oben auf der Spitze ansehen!«
Miyuki legte den Kopf in den Nacken. »Das wird ’n langer Aufstieg.«
»Wir gehen’s langsam an.« Karen zog sich auf die erste Stufe und streckte dann Miyuki die Hand entgegen. Die Professorin winkte diese allerdings beiseite und kletterte allein hoch. Sobald sie angekommen war, zupfte sie sich einen langen Strang Seetang vom Knie und warf ihn angewidert weg, wobei sie Karen mit einem funkelnden Blick bedachte.
»Na gut, dann statten wir nach unserer Rückkehr auch Nordstrom einen Besuch ab und besorgen dir einen neuen Hosenanzug.«
Das entlockte Miyuki ein echtes Lächeln. »Neue Schuhe, neuer Anzug. Gehen wir weiter. Bevor wir hier fertig sind, hast du mir eine komplette neue Frühlingsgarderobe spendiert.«
Karen tätschelte ihrer Freundin den Arm und stieg weiter die Stufen hinauf. Sie hatte ihre Gefährtin aber bald weit hinter sich gelassen. Auf halber Strecke blieb sie stehen, damit Miyuki aufholen konnte, und ließ inzwischen den Blick über die versunkene Stadt schweifen. Mittlerweile war die Sonne völlig aufgegangen und zeigte sich als leuchtende Scheibe im Osten. Säulen und Gebäude warfen lange Schatten über das blaue Wasser. Aus dieser Höhe erkannte sie, dass sich die Ruinen mindestens zwei Kilometer weit erstreckten. Die überraschende Größe der Stadt deutete darauf hin, dass hier einmal mehr als zehntausend Menschen gelebt hatten. Wohin sind die alle verschwunden?
Karen trat zur Seite, als Miyuki bei ihr eintraf. »Ist nicht mehr weit«, versicherte sie ihr.
Die heftig keuchende Japanerin winkte einfach nur mit einer Hand. »Mir geht’s gut. Bleiben wir in Bewegung.«
»Wir ruhen uns besser aus«, meinte Karen, obwohl sie in Wahrheit unbedingt weiterwollte. »Wir sollten uns nicht verausgaben.«
Ungeachtet der Algen sank Miyuki zu Boden. »Wenn du darauf bestehst.«
Karen grub eine Flasche Wasser aus dem Rucksack und reichte sie Miyuki, die die Verschlusskappe entfernte und dankbar einen Schluck nahm. Sie konnte jedoch den Blick nicht von der Aussicht abwenden. »Sie ist so groß. Das hätte ich mir nie so vorgestellt.«
Karen ließ sich neben ihr nieder und setzte gleichfalls die Flasche an. »Wie konnte das alles nur für so lange Zeit verborgen bleiben?«
»Das Wasser ist … oder vielmehr war sehr tief, die Strömung tückisch. Nur erfahrene Taucher hätten hier forschen können. Aber jetzt! Sobald die Öffentlichkeit davon erfährt, wird hier der Teufel los sein.«
»Und die Leute werden alles zertrampeln«, fügte Karen hinzu. »Jetzt ist die beste Zeit, die Stadt zu erforschen.«
Miyuki sprang auf. »Wenn du so weit bist, bin ich’s auch.«
»Nur keine Eile. Diese Ruinen haben Jahrhunderte auf ihre Erforschung gewartet. Auf ein paar Minuten mehr oder weniger kommt’s da nicht an.«
Miyuki setzte sich wieder.
Karen tat es ihr nach. Es war schon ein erstaunlicher Anblick. »Ich weiß deine Hilfe zu schätzen, Miyuki. Ich könnte gar keine bessere Freundin haben.«
»Ich auch«, erwiderte Miyuki leise.
Die beiden Frauen hatten sich bei einem Gesellschaftsabend an der Ryukyu-Universität kennengelernt. Beide waren Singles, etwa gleichaltrig und arbeiteten in einer von Männern dominierten Umgebung. Sie hatten häufiger gemeinsam etwas unternommen – Abstecher in eine örtliche Karaokebar, späte Abendessen während der Zwischenprüfungen, samstägliche Filmmatineen – und waren enge Freundinnen geworden.
»Habe ich dir schon gesagt, dass ich gestern etwas von Hiroshi gehört habe?«, fragte Miyuki.
»Nein! Hast du nicht!« Karen richtete sich auf. Hiroshi Takata, ebenfalls Professor an der Universität, war mit Miyuki zusammen gewesen, aber ihr Erfolg auf ihrem Gebiet hatte so etwas wie berufsmäßige Eifersucht entfacht und einen Keil zwischen sie getrieben. Vor zwei Jahren hatte er ganz plötzlich Schluss gemacht und war nach Kobe
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