Im Dreieck des Drachen
Augen hinüber. Die Küstenstadt Chatan wurde hinter ihnen immer kleiner und verschwand, als sich ein Morgennebel über die Insel und das Meer legte.
Schließlich tauchte im Osten die Sonne über dem Horizont auf und übergoss die Ruinen mit einem rosigen Schimmer. »Wer hat diese versunkene Stadt errichtet?«, überlegte Karen laut.
»Im Augenblick mache ich mir eigentlich nur um meine eigene Stadt und mein eigenes Labor Sorgen«, erwiderte Miyuki und deutete nach vorn. »Vergangenheit ist Vergangenheit.«
»Aber wessen Vergangenheit?«, setzte Karen voller Ehrfurcht ihre Überlegungen fort.
Achselzuckend durchwühlte Miyuki ihre Tasche und zog ihren kleinen Computer heraus. Sie lehnte sich in ihrem Sitz zurück und tippte mit ihrem Stift auf den kleinen Bildschirm.
»Was tust du da?«
»Ich stelle eine Verbindung zu Gabriel her. Um sicherzugehen, dass im Labor alles in Ordnung ist.«
Aus dem Computer ertönte eine leise synthetische Stimme: »Guten Morgen, Professor Nakano.«
Karen grinste. »Ihr beide solltet vielleicht den Bund des Lebens schließen.«
Miyuki warf ihr einen kurzen Seitenblick zu und arbeitete weiter.
»Ihr seid bereits an der Hüfte miteinander verbunden«, neckte Karen.
»Und du bist bloß eifersüchtig.«
Karen schnaubte. »Auf einen Computer?«
»Gabriel ist mehr als bloß ein Computer«, gab Miyuki angespannt zurück.
Karen hielt die Hand hoch, um einem gehässigen Angriff zuvorzukommen. »Ich weiß, ich weiß.« Gabriel war ein äußerst kompliziertes Künstliche-Intelligenz-Programm, das Miyuki entwickelt und patentiert hatte. Die Entwicklung seines theoretischen Basis-Algorithmus hatte ihr den Nobelpreis eingebracht. Während der letzten vier Jahre hatte sie die Theorie in die Praxis umgesetzt. Gabriel, benannt nach dem feurigen Erzengel, war das Ergebnis. »Wie geht’s ihm?«
»Er hat meine gesamte E-Mail kategorisiert und überwacht nach wie vor die Notfall-Sendungen auf verschiedenen internationalen Websites.«
»Irgendwas Neues?«
»Die Beben haben im gesamten Pazifik aufgehört, aber die Amerikaner ziehen anscheinend massiv Streitkräfte im mittleren Pazifik zusammen, obgleich die Details lückenhaft sind. Er hat versucht, sich einen Weg in das D. O. D. -Netzwerk zu bahnen.«
» D. O. D .?«
Statt ihrer gab der kleine Computer Antwort: » D. O. D . ist das Akronym für das Verteidigungsministerium der Vereinigten Staaten. Department of Defense.«
Karen warf ihrer Freundin einen entsetzten Blick zu. Nicht nur, weil Gabriel auf eine ihrer Fragen antwortete, sondern auch, weil er in einem Computernetzwerk des Militärs herumschnüffeln wollte … Das könnte sie ernsthaft in Schwierigkeiten bringen. Sollte Gabriel das tun?
Miyuki tat ihre Besorgnis mit einem Wink ab. »Man wird ihn nie erwischen.«
»Warum nicht?«
»Du kannst nicht etwas erwischen, das nicht existiert. Obgleich ihn meine Zentraleinheit erschaffen hat, lebt Gabriel jetzt überall im Internet. Er besitzt keine spezielle Adresse, anhand deren man ihn zurückverfolgen könnte.«
»Ein Geist in der Maschine«, murmelte Karen.
»Genauer gesagt, Dr. Grace, bin ich DER Geist in der Maschine. Ich bin der Einzige meiner Art.«
Karen lief ein Schauer über den Rücken. Miyuki hatte einmal versucht, Gabriels Schleifen-Algorithmen und Lern-Unterprogramme zu erklären – eine Art synthetischer Intelligenz –, aber das war rasch über ihren Horizont gegangen. In Miyukis Labor hatte sie stets ein gewisses Unbehagen verspürt. Es war, als würden die ganze Zeit über unsichtbare Augen auf ihr liegen. Dieses Gefühl hatte sie jetzt auch wieder.
»Verdammt!«, fluchte Miyuki unterdrückt.
»Was ist los?«
»Die Universität schließt für diesen Monat. Der Kanzler hat gerade allen Fakultätsleitern eine E-Mail geschickt. Die Studenten dürfen heimfahren, um ihre Familien zu unterstützen.«
Karen hob eine Braue. »Und weswegen sind das schlechte Nachrichten?«
»Wenn meine Assistenten verschwunden sind, wird das meine Forschungsarbeit ziemlich zurückwerfen. Ich soll für mein Stipendium in drei Wochen einen Zwischenbericht über meine Fortschritte abliefern.«
»Unter den gegebenen Umständen kannst du bestimmt eine Verlängerung beantragen.«
»Vielleicht.« Miyuki steckte ihren Stift zurück. »Vielen Dank, Gabriel. Ich werde dir im Laufe des Tages digitale Bilder einspielen. Bitte speichere die Daten auf der Festplatte der Zentraleinheit und ziehe eine Sicherheitskopie auf DVD
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