Im Dunkel der Schuld
Gesicht. Hörst du mich?«
Neunundzwanzig
Freitag, 3. Februar 1995
»Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name ⦠Betet, Kinder, betet! Faltet die Hände! Senkt eure Köpfe. Vater unser â¦Â«
Trotzig öffnet Ebba die Augen und sieht direkt auf den Jesus mit dem Heiligenschein, der vor einer Gebirgslandschaft schwebt und die Hände segnend erhoben hat. Er blickt gar nicht sanftmütig und verzeihend, sondern finster und strafend, findet sie. Im Glas des kitschigen Kaufhausgemäldes spiegelt sich das Elternschlafzimmer wie ein Vexierbild, unwirklich, als befände es sich in der Hölle.
Die Kante des niedrigen FuÃendes bohrt sich in ihren Rücken, die Matratze ist so weich, dass man auf ihr mehr liegt als sitzt. Rechts von ihr kauert Rosie, schneeweià im Gesicht, ein Blutstropfen sickert aus ihrer Unterlippe, die sie vor Nervosität aufgebissen hat. Schräg gegenüber, da, wo der Vater sonst liegt, lehnt sich Georg mit geschlossenen Augen gegen das Kopfteil des Ehebetts. Neben ihm kniet Frieda mit irrem Blick, und ihre Stimme wird immer schriller, bei jedem Gebet, jedem Psalm, der aus ihrem verzerrten Mund hervorquillt.
Rosies Kopf sinkt an Ebbas Schulter, und Ebba löst ihre gefalteten Finger, um ihrer Schwester über die weiche, nasse Wange zu streichen.
»Er kommt zurück«, wimmert Rosie. »Er wird uns alle bestrafen. O mein Gott, Ebba, was hast du getan? Warum haben wir ihn nicht zurückgehalten? O mein Gott, wenn er lebt, dann passiert uns etwas.«
»Er wird nicht zurückkommen. Jedenfalls nicht lebend«, antwortet Ebba mit fester Stimme. Etwas anderes kommt nicht in Frage, steht auÃerhalb jeder Vorstellungskraft. So viele Jahre hat Rosie alle Pläne kaputtgeredet, heute aber hat sie endlich, endlich einmal den Mund gehalten, und es hat funktioniert. Bruno hat sie zwar angestiert, als würde er sie umbringen wollen, aber dann ist er mit der Schnapsflasche in der Hand hinausgetorkelt, schwankend, jedoch mit eiskaltem Willen in den Augen. Es ist eine Erlösung gewesen, die Worte endlich hinauszulassen, die sie so lange in sich hin und her gedreht hatte. Sie hat ihm dabei voll ins Gesicht gesehen, mit so viel Entschlossenheit, dass sie sicher gewesen ist, dass er es tun würde.
»Unsere Schuld, unsere Schuld, unsere groÃe Schuld. Was haben wir nur getan! Herr, vergib uns. Herr, lass es nicht zu, dass wir alle unglücklich werden. Herr, lass ihn leben.«
»Nein, Mama!« Ebba schiebt Rosie ein kleines Stück von sich und beugt sich vor. Sie schüttelt Frieda leicht, bis diese sie ansieht, immer noch wie irre, aber auch mit einer Spur Angst.
»Wir sollten beten, dass es endlich vorbei ist. Wenn dein Gott gerecht ist, lässt er ihn sterben. Heute Nacht. Gib mir deine Hand, Mama. Georg, Rosie, wir fassen uns alle an den Händen und beten, dass wir ihn für immer los sind.«
»Lasst euch durch den Zorn nicht zur Sünde hinreiÃen! Die Sonne soll über eurem Zorn nicht untergehen. Gebt dem Teufel keinen Raum.«
»Komm zu dir, Mama. Du willst doch auch nicht, dass er zurückkommt. Er wählt den Weg selbst. Uns trifft keine Schuld.«
»Gott, wasch meine Schuld von mir ab, und mach mich rein von meiner Sünde! Denn ich erkenne meine bösen Taten, meine Sünde steht mir immer vor Augen. Verbirg dein Gesicht vor meinen Sünden, tilge all meine Frevel!«
»Hör auf!«
Frieda schlägt die Hände vors Gesicht und wiegt sich jammernd vor und zurück. »Was habt ihr getan? Was habe ich zugelassen? Was haben wir nur getan!«
»Nichts! Es ist seine Entscheidung gewesen.«
»Du hast ihn dazu getrieben. Du warst immer sein Sonnenschein.«
»Das ist nicht wahr! Weggesperrt hat er mich, schlimmer als einen Hund! Und was hat er Rosie angetan? Sieh doch nur, was aus ihr geworden ist. Sie ist ein Krüppel, seelisch und körperlich.«
»Jetzt ist es genug, Ebba«, mischt sich Georg ein. »Das Wort nimmst du zurück. Das ist nicht korrekt.«
»Wir haben es gemeinsam gewollt, und wir werden es gemeinsam durchstehen. Wenn wir um etwas bitten, dann darum, dass die Polizei bald klingelt und uns mitteilt, dass er einen Unfall hatte und tot ist. So lange rühren wir uns nicht von der Stelle, verstanden?«
Stille legt sich über das Doppelbett. Rosies Hand ist feucht, die der Mutter kalt wie der Tod. Aber das hysterische Beten und Jammern hat
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