Im Dunkel der Schuld
ihre Schuhe durchgeweicht. Auf dem Friedhof schien sich der Regen noch zu verstärken, bildete Blasen in den Pfützen. Alles war düster, kalt, nass und ungemütlich. Ebba bibberte und ärgerte sich über sich. Was hatten diese blöden Flaschen schon zu bedeuten, selbst wenn wieder eine auf dem Grab liegen würde? Da hatte einer einen makabren Tick, mehr nicht. Es gab keinen Zusammenhang mit den Todesfällen. Wie denn auch? Alle drei waren an völlig unterschiedlichen Orten zu unterschiedlichen Zeiten auf unterschiedliche Weise gestorben.
Der Regen wurde schwächer, dann hörte er auf. Ebba schien allein zu sein. Es waren keine weiteren Besucher zu sehen, die Wege waren leer und glänzten nass, von den Bäumen tropfte es, ein paar Amseln und Buchfinken machten sich lautstark bemerkbar, die Luft war kühl und klar, und die Kopfschmerzen wurden erträglicher.
Endlich erreichte sie die Pyramide mit dem neuen Holzkreuz davor, und da lag sie, hell glänzend auf der frischen schwarzen Erde, lang und schmal. Erinnerungen schossen in ihr hoch, sie meinte, den bekannten Schnapsatem zu riechen, und ihr wurde übel.
Es war nur eine Flasche, versuchte sie sich zu beruhigen, aber es gelang ihr nicht. Wie ein Film zogen quälende Bilder an ihr vorbei, und ihr wurde bewusst, dass es niemanden mehr auf der Welt gab, der verstehen konnte, was sie durchmachte. Alle, mit denen sie die Schrecken der Kindheit erlebt und überwunden hatte, waren tot.
Ihre Fingernägel bohrten sich in ihre Handflächen, so fest ballte sie die Fäuste, um sich gegen das Grauen zu wehren, das um sie herumschlich. Es gab keinen Grund, sich zu fürchten. Die Welt hatte sich geändert. Niemand würde sie mehr irgendwo einsperren können und wollen. Es waren nur Gespenster der Vergangenheit, die sie stets viel besser unter Verschluss gehalten hatte als Rosie und Georg, die offensichtlich bis zu ihrem Tode darunter gelitten hatten. Sie hingegen hatte ihr Leben fest im Griff. Sie hatte jemanden, der sich nach ihren Wünschen richtete, und sie hatte Mechanismen gefunden, mit engen Räumen fertigzuwerden. Sie war stark. Niemand konnte sie verletzen.
Aber da lag diese Flasche. Was wollte der Unbekannte damit sagen? So wie es aussah, war sie auch diesmal wieder halb ausgetrunken oder ausgeschüttet worden.
Was jetzt? Aufnehmen, wegwerfen und den Vorfall vergessen? Ihn als Spinnerei eines alten, kranken Saufkumpans ihres Vaters abtun?
Und doch ⦠Es war unheimlich. Vielleicht eine Botschaft. Man sollte sie nicht ignorieren.
Schritte näherten sich. Es war Jörg, der die letzten Meter fast im Dauerlauf zurücklegte.
»Verdammt«, fluchte er. »Also doch. Was jetzt?«
Ebba gab keine Antwort. Sollte sie die Flasche wie in einem Krimi sicherstellen? Mit einem Taschentuch anfassen, in eine Plastiktüte geben, zur Polizei bringen? Alles so lassen, wie es war, und den Notruf betätigen? Was sollte sie sagen? »Eine Schnapsflasche liegt auf dem Grab meines alkoholkranken Vaters?«
Man würde sie bestenfalls auslachen.
Sie konnte aber auch nicht zur Tagesordnung übergehen.
Jörg holte eine kleine Digitalkamera aus der Manteltasche und machte ein paar Aufnahmen, dann entfernte er sich ein paar Schritte, kramte in einem Müllbehälter für nicht verrottende Abfälle. Wenig später kehrte er mit einer zerknüllten Plastiktüte zurück.
»Vielleicht sollten wir den Inhalt überprüfen lassen. Wer weiÃ, was da wirklich drin ist.« Mit spitzen Fingern nahm er die Flasche hoch, schraubte sie auf und schnupperte. »Eindeutig Schnaps. Ich heb sie auf. Flaschen auf Gräbern zu deponieren ist zwar keine Straftat, aber ich möchte jetzt auch wissen, was dahintersteckt. Gleich morgen nehme ich mir das hiesige Zeitungsarchiv vor und recherchiere auch bei anderen Redaktionen. Das hätte ich schon eher tun sollen. Es gibt eigentlich nur zwei Möglichkeiten: Entweder der Spinner treibt auf mehreren Friedhöfen der Umgebung sein Unwesen, oder es hat wirklich etwas mit euch zu tun. Mit deinem Vater, um genau zu sein, auch wenn du im Moment nichts mit dem Datum anfangen kannst. Ich werde es herausfinden, Ebba, das verspreche ich dir. Dazu musst du mir aber endlich alles über deinen Vater erzählen. Ich will alles wissen: Was war er für ein Mensch? Vor allem: Wie ist er gestorben? Und warum? Ebba? Ebba, was ist mit dir? Du bist ganz weià im
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