Im Dunkel der Schuld
bewegte. Er leckte sich über die spröden Lippen und nickte langsam.
»Montag«, sagte er rau. »Nach Feierabend. Ich wohne vorn, in der Kurve, direkt neben den Hahnhof-Neubauten. Rechts neben dem kleinen Pavillon befindet sich die Einfahrt zum Grundstück. Aufpassen, es geht noch steiler abwärts als hier auf dem Friedhof. Sie finden mich in der Nähe vom Tor, oberhalb des Hauses, irgendwo beim Gewächshaus.«
Am Nachmittag hatte Ebba keine Ruhe mehr.
Sie hatte nach ein paar Stunden Schlaf Rosies Unterlagen gesichtet, Vertragskündigungen geschrieben, und schlieÃlich Hinweise auf eine beginnende Depression ihrer Schwester gesucht. Es schien aber nicht so, dass Rosie nicht gewusst hätte, was sie tat. Sie hatte das Erbe des Vaters zunächst mustergültig angelegt, dann hatte sie davon erst das Haus in Arnis erworben, Jahre später die Buchhandlung abgelöst und schlieÃlich im Februar letzten Jahres diese verdammte Wohnung gekauft, die gar nicht so teuer gewesen war. Dann hatte sie einen Teil des verbliebenen Geldes, dreiÃigtausend Euro, in bar abgehoben. Von dieser Summe fehlte jede Spur. Es gab leider auch keine Quittung für irgendjemanden, keine Ãberweisung, keine Rechnung für ein Auto oder eine ähnlich teure Anschaffung. Ebba kam sich vor, als stochere sie im Nebel. Nun brummte ihr der Kopf. AuÃerdem nagte seit Stunden an ihr, dass sie das Grab nicht rund um die Uhr bewachten, sondern davon ausgegangen waren, dass der mysteriöse Unbekannte nachts sein Unwesen trieb. Wenn ihm das Datum 26. März wichtig war, konnte er jedoch die Flasche genauso gut am Nachmittag oder gegen Abend oder in der kommenden Nacht ablegen. Sie ärgerte sich, dass sie daran nicht gedacht hatte.
Kurz spielte sie mit dem Gedanken, Jörg zu fragen, ob er sie zum Friedhof begleiten wolle. Er hatte vorhin eine kleine Ewigkeit gebraucht, um Brot und Käse einzukaufen. Jetzt saà er an seinem Laptop und ordnete eine Fotoreihe über die Pferderennen, die er für eine Reportage über die Insolvenz des Internationalen Clubs aufgenommen hatte, der bislang die berühmten Galopprennen von Baden-Baden ausgerichtet hatte. Ein neuer Investor hatte soeben die Geschäfte übernommen, aber noch gab es Unstimmigkeiten mit dem alten Vorstand. Da waren nicht nur aktuelle Schnappschüsse wichtig, sondern auch Jörgs umfassendes Bildarchiv.
Sie bewunderte ihn, wie er vollkommen in seine eigene Welt versinken konnte. Eine steile Falte hatte sich zwischen seinen Augen gebildet, während er wohl ein Bild bearbeitete, er bewegte gedankenverloren den Kopf, fuhr sich durch die Haare, sah aber nicht auf.
»Ich laufe eine Runde«, verkündete sie, und er schreckte hoch.
»Was hast du gesagt?«
»Ich will noch mal auf den Friedhof.«
»Möchtest du, dass ich mitkomme?«
Seine Sorge, seine Vorsicht und Unschlüssigkeit waren irgendwie übertrieben. Das hatte sie ihm erst heute Morgen gesagt.
»Was willst du, Ebba?«, hatte er sich beklagt. »Wenn ich sage, was mir wichtig ist, ziehst du dich in dein Schneckenhaus zurück, wenn ich versuche, mich nach dir zu richten, ist es auch nicht recht. Sag mir, was ich tun soll. Ich möchte mit dir zusammenbleiben, ohne dich unglücklich zu machen. Ich verspreche, dass ich künftig mehr auf Ordnung achte. Ich gehe morgen Abend brav in meine Wohnung oder, wenn du willst, auch heute schon.«
Jetzt war es wieder so weit. Sie sollte bestimmen, was er tun sollte. Ihre Schläfen pochten, während er sie unglücklich ansah und seine Augen dann wieder zum Bildschirm wanderten. Warum sagte er nicht, dass er lieber arbeiten würde? Was hatte sie davon, wenn er mitkam, obwohl er mit dem Kopf bei seiner Arbeit war?
Vielleicht hatte sie selbst nur schlechte Laune und war deswegen so genervt.
»Schon gut, ich kann allein gehen«, sagte sie mit einem gezwungenen Lächeln. Es hörte sich trotzdem patzig an, und es war ihm anzumerken, dass er das auf sich bezog. Er musterte sie einen Moment lang unschlüssig, dann zuckte er mit den Schultern und wandte sich wieder seinem Bildschirm zu. Was ihr auch wieder nicht passte.
Frische Luft würde wirklich guttun.
Sie war nur ein paar Meter gelaufen, als es anfing zu regnen. Die Tropfen prasselten nur so auf den Schirm, bildeten in den StraÃengräben gurgelnde Bäche, die die Gullys kaum mehr aufnehmen konnten. Binnen kürzester Zeit waren
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