Im Dunkel der Schuld
und grübeln. Vielleicht konnte Jörg als neutraler AuÃenstehender ihr tatsächlich helfen. Er hatte einen klaren, analytischen Verstand, der nicht durch Erinnerungen und Trauer benebelt war. Vielleicht sollte sie mit ihm reden. Sie musste ihm ja nicht alles sagen, aber doch so viel, dass er ihr helfen konnte, ihre Gedanken zu ordnen.
Jörg sah sie immer noch erwartungsvoll an. Was hatte er gefragt? Nach ihrem GroÃvater? Noch ein Selbstmord. Es war wie ein Fluch.
»Er hat sich erschossen. In der Hochzeitsnacht seiner einzigen Tochter, meiner Mutter.«
Jörgs Augen verengten sich. »Und warum?«
»Er besaà in Versmold eine Wurstfabrik. Mama aber gruselte sich vor Fleisch und Wurst. Vielleicht ist ihm bei der Hochzeit aufgegangen, dass sie die Fabrik nicht übernehmen würde.«
»Hätte dein Vater sie nicht weiterführen können?«
»Der? Ich bitte dich. Ein Künstler ⦠Er hat sofort alles verkauft, ist mit meiner Mutter nach Baden-Baden gezogen und hat das Geld verprasst.«
»Und aufsehenerregende Bilder gemalt.«
»Hm. Für uns waren sie ein einziger Albtraum. Er hat schreckliche Szenen gemalt. Erst die letzte Schicht bedeckte sie einigermaÃen. Aber ich, ich sehe alles, was darunterliegt.« Ein Schauer lief ihr über den Rücken. »So, das reicht für heute. Sobald wir zurück sind, werde ich die Sammlung einem Kollegen geben. Es ist ja lächerlich, sie hinter den Stahltüren einzusperren und diese Türen immerzu anzustarren, als könnten sie jeden Augenblick aufplatzen, und das Grauen von mir Besitz ergreifen.«
Erschrocken hielt sie inne. Jörg sah mitleidig aus. Genau das wollte sie nicht. Sie war nicht schwach und bedauernswert. Sie hatte es überlebt und keinen Schaden davongetragen. Und sie wollte endlich, dass alles ein Ende hatte: die Bilder, ihre Ãngste und die quälende Ungewissheit über die wahren Hintergründe der Todesfälle. Aber Jörg würde ihr dabei nicht helfen können, das erkannte sie in diesem Augenblick. Er interessierte sich nur für ihren Vater. Und über den wollte sie beim besten Willen nicht sprechen.
»Ich möchte nach Hause«, sagte sie schlieÃlich. »Irgendwie ist mir die Urlaubsstimmung verhagelt.«
Jörg schien etwas einwenden zu wollen, aber dann winkte er mit einer resignierten Geste ab.
»Ach, Ebba«, seufzte er stattdessen leise. »Wie soll das nur weitergehen?«
Bedrückt gingen sie sich in Baden-Baden ein paar Tage aus dem Weg.
Doch eine Woche später rief Jörg aufgeregt an.
»Ich muss mit dir reden«, drängte er atemlos. »Nicht böse sein, aber ich habe ein paar Nachforschungen über deinen Vater angestellt und etwas herausgefunden, was du unbedingt wissen solltest. Es ist wichtig. Für dich und für mich. Wenn du alles gehört hast, kannst du immer noch entscheiden, ob ich weitermachen darf. Ich werde mich dann danach richten.«
Ebba musste sich zusammenreiÃen, damit ihr der Telefonhörer nicht aus der Hand fiel. Sie wandte sich von dem Kunden ab, der seit einer Viertelstunde vor Corinnas Schaukelbild stand und kurz davor war, es zu kaufen. Endlich. Mit diesem Bild hatten sie sich alle getäuscht, es hatte sich zum Ladenhüter entwickelt. Selbst Leblanc wollte es nicht.
»Was hat du getan?«, zischte sie.
»Bitte nicht böse sein. Es ist nur zu deinem Vorteil. Du kannst nicht ewig vor deinen alten Problemen mit der Vergangenheit davonlaufen. Sie stehen zwischen uns, und ich versuche sie auszuräumen.«
»Ich habe keine Probleme. Du machst mir welche.«
»Ebba, bitte. Tu mir den Gefallen. Es ist aufregend, du wirst deinen Vater danach mit anderen Augen sehen.«
»Vielleicht will ich das gar nicht.«
Der Kunde, ein drahtiger älterer Herr in einem hellen Anzug, der perfekt in das Gemälde gepasst hätte, räusperte sich ungeduldig, sodass ihr nichts anderes übrig blieb, als Jörg schnell zuzusagen und das Gespräch zu beenden. Sie legte den Apparat fort.
»Die Künstlerin ist der Shootingstar der Saison«, begann sie. Vielleicht kam das Werk doch noch in gute Hände.
Am Abend stand sie mit gemischten Gefühlen vor Jörgs Tür. Eigentlich hatte sie ihm nur ins Gesicht sagen wollen, was sie von seinem Verrat hielt. Wieder einmal hatte er sich nicht an Abmachungen gehalten, und wieder drehte sich alles um die Person, die tabu war.
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