Im Dunkel der Schuld
FuÃboden. Dann seufzte sie.
»Was ist nur los mit dir, Elisabetha?«, sagte sie leise. »Deine Unterstellungen kann ich nicht akzeptieren. Bruno war stark und hart, gewiss. Er war wie mein Vater. Strenge schadet niemandem. Wenn er euch so behandelt hätte, wie du es jetzt behauptest, wäre ich eingeschritten. Aber ihr habt nie etwas verlauten lassen. Das bedeutet doch â¦Â«
Schweigen legte sich über den Raum, sekundenlang, minutenlang.
Schweigen. Die Familienkrankheit, dachte Ebba. Es ist zwecklos. Selbst wenn ich es anspreche, hört mir niemand zu.
Das Schweigen wurde immer dicker, türmte sich zu einer Mauer, undurchdringlich, unerbittlich.
Bis sich Maria über die Augen fuhr und sich ihre sanfte Stimme an der unsichtbaren Wand brach.
»Ich ahne, was Georg gequält hat«, sagte sie bedächtig. »Warum ihr redet nicht weiter? Ihr erstickt, nein, das ist das falsche Wort. Ihr, ihr erfriert ja. Mir ist auch schon ganz kalt. Mama Frieda, eine muss Anfang machen. Erzähl. Erzähl von dir. Von früher, von ganz früher. Als du Kind warst. Erzähl, und dann ihr, Rosie und Ebba. Ich möchte genauer verstehen, was mit Georg los war. Tut mir favour â den Gefallen, bevor ich in die Heimat zurückkehre. Es ist meine letzte Chance, mehr über meinen Mann zu erfahren. Bitte. Mama Frieda, bitte.«
Neun
Aber Frieda konnte es nicht.
Sie wusste ja selbst nicht, wie alles begonnen hatte und warum sie Bruno â ausgerechnet ihn â so vergöttert hatte, bis er unweigerlich zu dem wurde, den sie zum Schluss alle, alle miteinander â¦
Diese Schuld, die die nächste nach sich zog wie eine Spirale, trieb sie alle unaufhaltsam hinab in die Hölle.
Herr, vergib uns.
Aber sosehr sie sich auch bemühte, ihre herumwirbelnden Gedanken an die gewohnten tröstlichen Gebete und Psalmen zu ketten â diesmal war es zu spät. Die Erinnerungen an die Anfänge lieÃen sich nicht mehr zurückdrängen.
Wie Brocken von Erbrochenem stiegen die Worte in ihr hoch, lieÃen sie würgen und sich dann doch hinausspeien.
Erleichterung brachte das nicht, aber vielleicht konnte sie auf diese Weise auf Verständnis hoffen â oder wenigstens auf Trost, den sie doch genauso nötig hatte wie ihre Töchter, wenn nicht sogar nötiger.
Was hatte sie im Leben nicht alles erdulden müssen, viel mehr als ihre Kinder. Denn die waren wenigstens miteinander und mit einer Mutter aufgewachsen, die sie liebte. Sie selbst aber war von Anbeginn verdammt gewesen.
»Ein Mädchen, nur ein Mädchen.«
Das war alles, was Clemens Hansen zu sagen hatte, als er sie das erste Mal erblickte. Dann hatte er sich abgewandt und das Zimmer verlassen, in dem sie unter groÃem Leid geboren worden war und ihr Leben gegen das ihrer Mutter eingetauscht hatte. Aber sie konnte doch nichts dafür. Nie!
Clemens Hansen sah das anders. Er stellte ein Kindermädchen ein und kümmerte sich fortan nicht mehr um sie. Kein liebes Wort, keine Ermunterung, kein Lachen, schon gar kein Stolz. Seine Familie war nun die Wurstfabrik, in der blutige Schweinehälften mit Fett, Schwarten und Gewürzen zu teuren Pasteten verarbeitet wurden.
Als er kurz vor ihrem siebzehnten Geburtstag seinen ersten Herzinfarkt bekam, besann er sich darauf, dass er ein Kind, eine Erbin, hatte, nahm Frieda von der Schule und zwang sie, in seinem Betrieb zu arbeiten. Es war ihm gleichgültig, dass sie sich vor Fleisch und Wurst ekelte. Zwei Jahre lang musste sie alle Arbeitsplätze in der Firma durchlaufen und sich anstrengen. Sie sollte Chefin werden, sollte selbst Hand anlegen können, Mixturen probieren, Marketing orga nisieren, über Land fahren und das beste â sprich günstigste â Fleisch einkaufen.
Aber sie konnte es nicht. Sie übergab sich mehrmals am Tag, litt unter Migräne, die Clemens nicht als Krankheit akzeptierte, wurde immer dünner.
Irgendwann verstand er, dass sie seinen Anforderungen nicht genügen würde, und der Funke Interesse in seinen Augen wich der früheren ausdruckslosen Verachtung. Also wählte er den Sohn eines befreundeten GroÃschlachters aus und beschloss, die beiden zu verheiraten. Frieda, oder »Friedchen«, wie er sie herablassend nannte, wurde nicht gefragt.
Zur gleichen Zeit stellte er für sich einen Chauffeur ein, Bruno Seidel.
»Ich war vom ersten Tag an von ihm fasziniert. Er war früher ganz anders, als
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