Im Dunkel der Schuld
unsichtbar zu sein und ihre Kinder schutzlos der Willkür ihres unberechenbaren Ehemannes auszusetzen.
»Ständig!«, wiederholte sie und erschrak darüber, wie viel Hass in ihrer Stimme lag. Sie wollte das nicht. Sie wollte sich nicht von ihren Gefühlen überrollen lassen. Sie musste sich beherrschen, zurücknehmen. Ruhig atmen. Die Angst wegatmen, die ihr plötzlich â wie früher in der Truhe â die Luft abschnürte. Bloà nicht daran denken!
»Du warst ständig in der Kirche. Tagelang!«, spie sie noch einmal aus, weil sie das Gefühl hatte, sonst ersticken zu müssen. Es war genug, genug!
»Ich habe nur für unser aller Wohl gebetet.«
»Hat leider nicht geklappt. Kannst du dich wirklich nicht mehr erinnern, wie sich Rosie das Bein gebrochen hat?«
»Sie ist vom Baum gefallen. Allein.«
»Rosie, erzähl duâs ihr.«
Rosie schüttelte den Kopf und sah zu Boden. »Es hat gereicht, dass sich Georg jeden Tag Vorwürfe gemacht hat, wenn er mich humpeln sah. Jetzt müssen wir Mama nicht auch noch damit belasten. Es ist vorbei«, murmelte sie.
»Sag es! Sonst tue ich es.«
Rosie schossen Tränen aus den Augen. »Ebba, das ist nicht fair.«
»Wie du willst. Hör gut zu, Mama: Papa zwang Rosie auf den Baum, wohl wissend, dass sie, wahrscheinlich schon seit er sie als Baby an den FüÃen gepackt und aus dem Fenster gehalten hatte, Angst vor Höhe hatte. Er machte sich einen Spaà daraus, uns zu quälen. Er wusste, dass sie nicht allein runterkommen konnte. Also sollte sich Georg unter den Baum stellen und sie auffangen. Schaffte er es nicht, würde er mich in die Truhe in seinem Atelier sperren. Das war eine Strafe, die Georg ganz besonders fürchtete, weil er sich die Schuld gab, wenn Rosie und ich litten. An dem Tag hatte er sich also wieder einmal alle erdenkliche Mühe gegeben, uns zu beschützen, aber es half nichts. Rosie war zu schwer für ihn. Sie stürzte in seine ausgebreiteten Arme, er fiel hin, und sie brach sich dabei das Bein so unglücklich, dass es bis heute steif blieb.«
»Das kann nicht stimmen. Das hättet ihr mir doch gesagt.«
Es gab Momente, da hatte Ebba Lust, ihre Mutter zu packen und so lange zu schütteln, bis sie in der Realität angekommen war.
»Kannst du dich wirklich nicht mehr an den Tag erinnern?«
»Rosie war mit Georg und deinem Vater im Krankenhaus, als ich heimkam. Es lag ein Zettel auf dem Küchentisch.«
»Und wo war ich?«
»Das ⦠Das ist so lange her. Das weià ich nicht.«
»Papa wusste es auch nicht mehr. Dass er mich in der Truhe in seinem Atelier vergessen hatte, fiel ihm erst am nächsten Morgen wieder ein. Und Georg, der ohne Abendessen als jämmerlicher Versager ins Bett geschickt worden war, begann spätestens an diesem Tag, sich selbst zu hassen und alles zu versuchen, es Papa recht zu machen. Fehlerlos, damit uns nie wieder so etwas passieren würde.«
Ebba machte eine Pause und wog ihre nächsten Worte ab. Sie wollte niemandem durch unbedachte ÃuÃerungen wehtun, und bislang hatte sie, wie ihre Geschwister, wortlos resigniert und akzeptiert, dass ihre Mutter den Kopf in den Sand steckte. Aber irgendwann musste das doch aufhören! Spätestens jetzt, da Georg tot war. Vielleicht war dies genau der richtige Augenblick für ein Körnchen Wahrheit, nur ein winziges Körnchen in der Wüste des Schweigens, Wegsehens und Verdeckens.
»Du, Mama, du hattest am nächsten Morgen ein blaues Auge. Er war kein schlechter Mensch, nein? Meine Güte. Gibt es eigentlich kein Gebot, dass man sich nicht selbst belügen darf?«
Ihre Mutter stand auf, hielt sich die Hüfte und ging schwerfällig zur Fensterfront, aus der sie lange hinausschaute.
»Hat er ⦠Hat er euch angefasst?«, hauchte sie gegen die Glasscheibe und verkrampfte ihre Hände.
In Ebba wallte Wut hoch, weil ihr mit einem Mal klar wurde, dass ihre Mutter auch das nicht gesehen hätte, dass sie ihre Kinder auch in solcher Not alleingelassen hätte.
»Man kann Kinder auch anders misshandeln, Mama. Mit Liebesentzug, mit seelischen Grausamkeiten und mit Wegsehen. Das gilt übrigens für beide Elternteile.«
Langsam, als täten ihr alle Glieder weh, drehte sich Frieda Seidel um. Ihr Blick irrte über ihre Kinder und ihre Schwiegertochter hin zu einem imaginären Punkt auf dem
Weitere Kostenlose Bücher